077 - Zu Gast bei Mr. Vampir
auszuüben, wollte ich sagen.“
„Weshalb?“
Sie schüttelt den Kopf. Das weiß sie selbst nicht. Es ist ein Gefühl, ein Instinkt. Jedenfalls wäre es unmöglich, das ist ein Teil ihres Lebens, der endgültig abgeschlossen ist. Aber sie kann Morestier das nicht sagen.
„Zu vieles hat sich geändert“, sagt sie leise.
„Und Ihre Tochter?“
„Meine Tochter?“
Eine plötzliche Pein krampft ihr Inneres zusammen. Ihre Tochter … sie sieht das Kind wieder, das die Frau auf der Straße in den Armen gehalten hat – wird sie ihre eigene Tochter jemals mit den gleichen schrecklichen Hintergedanken betrachten? Nein. Bei ihrer Tochter wäre das anders. Unmöglich … und doch … sie ist nicht ganz sicher.
Ihre Tochter. Wie seltsam fremd ihr das Kind jetzt ist. Nicht so fremd wie das auf den Armen der Frau vorhin, aber es ist, als ob ihre kleine Tochter Teil einer Welt sei, die nicht mehr die ihre ist.
Jeannine sperrt ihre Wohnungstür auf. Morestier steht neben ihr; er hat darauf bestanden, sie zu begleiten.
Wieder hat Jeannine das Bedürfnis, sich ihm anzuvertrauen. Macht das seine beruhigende Gegenwart aus oder sind es die quälenden Zweifel im Hinblick auf ihre Tochter?
Jedenfalls hat sie das Gefühl, wenn sie sich ihm anvertrauen könnte, wäre ein schweres Gewicht von ihrem Herzen genommen.
Die Hitze an ihrem Nacken ist verschwunden.
„Es ist nicht besonders luxuriös bei mir, Doktor“, sagt sie.
„Das ist doch nicht wichtig.“
„Hoffentlich sind Sie nicht enttäuscht. Ich bin nur eine Serviererin, wie Sie wissen …“
„Die hübscheste, die ich je gesehen habe.“
Das Kompliment macht ihr Freude. Sie fühlt sich wohl in Gesellschaft des Arztes. Sie öffnet die Tür.
Die kleine Wohnung liegt im fünften Stock eines großen Wohngebäudes in einer Vorstadtstraße. Es gibt keinen Lift, und Morestier ist ein wenig außer Atem, bemüht sich aber, es sich nicht anmerken zu lassen.
In einer Ecke des einzigen Zimmers steht eine breite Couch, auf der eine große, weiche, dunkelblaue Decke liegt. Daneben ein Fenster mit rot-blau gemusterten Vorhängen und ein roter, langhaariger Teppich vor der Couch. Ein kleines Tischchen und ein Lederfauteuil, in der anderen Ecke des Zimmers ein großer, brauner Kasten, bilden die gesamte Einrichtung.
Wirklich nicht sehr luxuriös, aber hübsch und sauber.
„Oh!“ ruft Jeannine aus. „Das ist nett, daß Sie daran gedacht haben!“
„Woran?“
„An die Blumen.“
Auf dem Tischchen steht eine große Vase mit langstieliegen roten Rosen.
Morestier runzelt die Stirn. „Die sind nicht von mir.“
„Nicht von Ihnen?“ fragt Jeannine überrascht. Ihr Herz beginnt rasend zu klopfen.
„Dann vielleicht vom Kommissar.“
Die Idee wäre zwar reizend: ein Polizeikommissar, der einer jungen Frau, die er nur von einigen Einvernahmen kennt, rote Rosen schickt, aber Morestier ist skeptisch. Er zieht es vor zu schweigen.
„Mag sein“, sagt er nach einer Weile. „Aber wir können ja die Portiersfrau fragen, wenn wir hinuntergehen.“
„Meine Tasche!“ ruft Jeannine.
Sein Blick folgt dem ihren, und er sieht die schwarze Tasche und die schwarzen Lederhandschuhe, die gekreuzt darauf liegen.
„Hatten Sie ihre Tasche am vergangenen Montag nicht bei sich?“
„Aber ja! Das ist es ja!“
Die junge Frau ist blaß und zittert. Morestier nimmt ihre Hand.
„Er hat sie Ihnen zurückgebracht, nicht wahr?“ fragt er leise.
Sie nickt.
Plötzlich scheint es, als hätte sich ein Schatten über das Zimmer gesenkt; sogar die roten Rosen sehen bedrohlich aus. Wie Blutstropfen leuchten sie aus dem Schatten hervor.
„Sie bleiben heute nacht nicht hier“, sagt Morestier entschlossen. „Sie kommen mit mir in die Klinik zurück.“
Jeannine antwortet nicht. Auch wenn sie wollte, könnte sie sich nicht bewegen. Die Klauen der Angst halten sie auf der Stelle fest. Morestier geht zur Couch und nimmt die Tasche auf, und diese Geste verscheucht den Bann.
Morestier versucht, seine Stimme so natürlich wie möglich klingen zu lassen. „Sie hatten also Ihre Tasche in Saint Prix mit?“
„Ja.“
„Er hat sie Ihnen zurückgebracht, und die Rosen stammen sicherlich auch von ihm. Das ist nichts als ein Versuch, Eindruck auf Sie zu machen, Jeannine. Beunruhigen Sie sich nicht. Wir werden Fauchard davon berichten, denn möglicherweise hat Ihr Entführer damit einen schwerwiegenden Fehler begangen.
Er mußte hierherkommen, sich an die Portiersfrau wenden, die ihn
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