077 - Zu Gast bei Mr. Vampir
gut. Sie fühlt sich nicht mehr so allein und verlassen.
Morestier legt seinen Arm um ihre Schultern. „Trotz des Risikos, das wir eingehen, Jeannine, haben Sie vertrauen. Sie haben mir Leggatt nicht geschickt, Kommissar!“
„Ich wollte noch zuwarten. Und wenn Sie mit uns zusammenarbeiten wollen, dann wäre es mir lieber, Sie würden Leggatt kennenlernen, ohne daß er weiß, daß Sie Mediziner sind. Was ich vorschlage, ist folgendes: Begleiten Sie Jeannine zum Restaurant, und lassen Sie sich ihm von Jeannine vorstellen, als ein Mitglied ihrer Familie, ihr Bruder meinetwegen … ich habe bereits mit dem Wirt gesprochen, sie braucht ihren Dienst nicht sofort wiederaufzunehmen.“
Der Kommissar lächelt.
„Sie wird an dem Tisch neben Leggatt Platz nehmen und bekommt ihr Essen serviert. Er ist ja auf dem laufenden, was Jeannines Beschuldigungen gegen ihn betrifft. Wie wird er reagieren? Was wird er sagen? Nun, Sie werden es hören, Doktor. Als Jeannines Bruder werden Sie ihn nicht besonders stören. Wenn er hingegen in Ihre Ordination kommt, ist er ganz gewiß vorbereitet und in der Defensive.“
„Sie haben recht.“
Morestier wischt Jeannine die Tränen von den Wangen.
„Mut, kleines Mädchen“, sagt er. „Es ist alles nur halb so tragisch. Und wir werden alle da sein, um Sie zu schützen.“
Der Wagen rollt Richtung Paris. Morestier fährt. Jeannine hat beschlossen, sich ihm anzuvertrauen. Sie wartet einfach darauf, daß Fauchard aussteigt. Sie möchte mit dem Arzt allein sein, wenn sie mit ihm spricht. Der Tag, die Sonne haben ihr ihr Gleichgewicht etwas zurückgegeben. So schwierig kann es doch nicht sein.
Heute früh hat sie die Schwester wiedergesehen, aber sie hatte kein Verlangen, sie zu töten. Vermutlich braucht sie tatsächlich nichts weiter als Ruhe und Erholung. Das Leben wird normal weitergehen, und außerdem kann sie sich jetzt, da sie reich ist, behandeln lassen.
Da sie reich ist. Der Gedanke kam ihr ganz unbewußt, als wäre es die Wahrheit. Sie fühlt, wie sie blaß wird. Leggatt hat es ihr versprochen. Glaubt sie bereits an seine Versprechen? Nein, das war ein kurzer Gedanke, und morgen wird sie ihre Arbeit im Restaurant wieder aufnehmen. Reich? Das wäre zu schön.
Sie seufzt.
An der Stadtgrenze von Paris steigt Fauchard aus. Er wechselt noch einige Worte mit Morestier.
Jeannine betrachtet die Straße, die Fußgänger auf dem schmalen Gehsteig und einen Polizisten, der einen Stadtplan vor sich ausgebreitet hält, während er einer jungen Frau, die ein etwa zweijähriges Kind auf dem Arm hält, etwas erklärt.
Das Kind klatscht in die Hände und lächelt. Jeannine sieht zu. Plötzlich fühlt sie eine brennende Hitze an ihrem Nacken, und ihr Blick erstarrt. Langsam streicht ihre Zunge über die Lippen.
„Also dann! Auf Wiedersehen“, sagt der Kommissar. „Wir treffen uns im Restaurant.“
Morestier legt den Gang ein, und sie fahren weiter. Jeannines Augen folgen dem Kind, bis es außer Sichtweite ist.
„Wie blaß Sie sind“, sagt der Arzt besorgt. „Fehlt Ihnen etwas?“
„Nein.“
Sie antwortet rasch und setzt hinzu: „Ich fühle mich ausgezeichnet.“
Morestier! Sie betrachtet ihn spöttisch von der Seite. Ein Feind wie Fauchard. Die Hitze in ihrem Nacken ist sehr angenehm, und sie fühlt sich stark und mächtig. Zu dumm, daß sie alles dem Kommissar erzählt hat! Sie hätte die Namen der drei Mädchen nie erwähnen dürfen! Sie hat das beinahe unbewußt getan, als sie Angst hatte. Ein Zweifel jagt durch ihr Gehirn: Wann sind ihre Gedanken wirklich klar? Jetzt oder wenn sie Angst hat? Welcher Augenblick ist der realere? Wenn sie Morestier verachtet, so wie jetzt – oder wenn sie sich um Hilfe und Schutz an ihn wendet?
Wenn sie Angst hat? Lächerlich. Und doch, manchmal…
Trotzdem hat sie zuviel gesprochen. Leggatt hätte ihr erklären sollen, sie instruieren müssen. Aber sie ist doch davongelaufen.
„Werden Sie im Restaurant weiterarbeiten, Mademoiselle Jeannine?“ fragt Morestier.
„Nein.“
Ihre Antwort kam völlig mechanisch, und ohne daß sie denken mußte.
„Und was werden Sie tun?“ fragt der Arzt erstaunt.
„Das weiß ich noch nicht.“ Sie wendet ihm das Gesicht zu, und ihr Lächeln wird ein wenig spöttisch. „Jedenfalls habe ich keine Lust, weiterhin die Serviererin zu spielen.“
„Zu spielen?“
Achtung. Jetzt ist nicht der Moment sich zu verplappern. Sie muß ihre Zunge besser im Zaum halten.
„Den Beruf einer Serviererin
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