077 - Zu Gast bei Mr. Vampir
wird ihr schwerfallen, heute noch die Arbeit aufzunehmen. Sie möchte lieber schlafen.
Die Augen fallen ihr zu. Die Bonbonschachtel gleitet über ihre Knie auf den Boden. Es ist ihr unmöglich sie aufzuhalten…
Plötzlich ein heller Augenblick: Sie hat den Eindruck, daß Leggatt anhält.
Er fährt den Cadillac an den Straßenrand, dann bückt er sich, um die Pralinenschachtel aufzuheben, die ihr hinuntergefallen ist. Er verstaut sie wieder in der Seitentasche. Dann lehnt er Jeannine fürsorglich in die weichen Polster.
Sie atmet ruhig, und ihre Brust hebt und senkt sich völlig normal. Leggatt streicht ihr sanft über die Wange. „Siehst du, wie einfach das alles ist?“
Er runzelt die Stirn. Jeannines Verschwinden wird möglicherweise zu baldigen Nachforschungen führen, denn man wird ihren Namen in Zusammenhang mit jenen ihrer Vorgängerinnen bringen, und die Polizei wird schnellstens recherchieren. Daher wäre es nicht klug, heute nicht im Restaurant zu erscheinen.
Sein Plan nimmt Gestalt an. Er wird Jeannine in das große Haus in Colombes bringen, um dann zurückzufahren und die Rolle Arthur Leggatts zu spielen. Das wird das beste sein. Und er wird die Rolle auch in den folgenden Tagen zu den Essenszeiten weiterspielen.
Im Grunde amüsiert ihn diese Komödie, denn es ist doch eine Komödie. Aber manchmal überrascht es ihn, daß er sich so völlig in die Person des kleinen, englischen Fotografen hineinleben kann.
Auf jeden Fall bin ich nicht Leggatt, aber Leggatt existiert, denkt er, und die Erkenntnis verwirrt ihn zutiefst. Und das Haus in Colombes? Wem gehört das?
Leggatt hat es gekauft. Wie immer er auch die Sache dreht und wendet, immer kommt er auf den Engländer zurück. Aber Leggatt ist fünfundsiebzig Jahre alt. Und vor ihm? Denn sicherlich hat er bereits eine menschliche Gestalt als Tarnung benützt, bevor er in die des Fotografen schlüpfte.
Das ist vermutlich einer der Gründe, weshalb er von Zeit zu Zeit in die Haut eines Leggatt schlüpfen muß: Um etwa das Haus in Colombes zu kaufen, wo er seine Wesen eines nach dem anderen versammeln muß. Ich sollte eine Liste aufstellen, denkt er. Aber das birgt ein Risiko in sich. Er müßte längst versunkene Sprachformen benutzen.
So hat er also einen dauernden Kampf zu führen, einen Kampf ohne Ende. Es würde ihm genügen, alle seine Verbündeten gemeinsam um sich zu vereinen. Alle jene, die er durch Jahrhunderte vorbereitet hat und …
Und ich werde sie alle wiederfinden, denkt er und lächelt böse.
Jeannine öffnet die Augen, aber sie ist noch nicht völlig wach. Zumindest hat sie den Eindruck noch nicht wach zu sein. Sie ist sich nicht im klaren, ob es ein Alptraum oder Realität ist…
Sie kann sich nicht bewegen, und sie kann nicht schreien. Es ist, als wäre sie angebunden und hätte einen Knebel im Mund.
Um sie herrscht undurchdringliche Nacht und eine ungewöhnliche Stille. Die Stille eines Friedhofes oder eines Leichenhauses. Ja! Der Geruch in dem Raum ist der eines Leichenhauses. Und sie träumt nicht mehr, sie ist wach! Hellwach! Mein Gott!
Sie möchte schreien, ihre Angst hinausrufen, aber kein Ton kommt aus ihrer Kehle, und der Geruch erregt Übelkeit. Sie kaut auf einem Tuch herum, das sie nicht ausspucken kann. Und sie ist festgebunden, die Arme um eine Stuhllehne nach hinten gebogen, und die Beine an die Stuhlbeine gefesselt. Was ist passiert? Sie versucht sich loszureißen, aber die Schnüre lockern sich nicht.
Ihr ganzer Körper schmerzt. Sie fühlt sich, als wäre ihre Blutzirkulation völlig unterbrochen. Ohne den Schmerz würde sie sich noch in ihrem Alptraum wähnen.
Arthur Leggatt … der alte Trottel hat sie auf der Straße getroffen, nicht weit von Saint Prix entfernt … sie ist in seinen Wagen eingestiegen … er wollte sie doch nach Paris bringen. Er hatte ihr Likörpralinen angeboten – waren sie mit einem Schlafmittel präpariert? Was will er von ihr? Niemals hat er ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit zugewandt.
Er war auch sonst verändert, kommt ihr jetzt in den Sinn. Er fuhr einen eleganten Wagen … er rauchte …
Wenn sie nur schreien könnte! Es ist kalt hier … und die Stille … diese undurchdringliche Finsternis.
Die Tränen rinnen über Jeannines Wangen.
Dieser Gestank! Woher kommt er? Von nirgendwo. Er ist Teil der Luft hier, alles scheint von ihm durchdrungen zu sein. Es ist ein Leichengeruch, ein Geruch nach faulendem Fleisch.
Ist sie in einer Gruft? In einer
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