0772 - Das Gericht der Toten
die sich in die tiefe Einsamkeit zurückgezogen hatten, um dort ihr abgeschiedenes Leben zu führen.
Natürlich hatte die blonde Rose gelacht, als der Begriff Mönche gefallen war. »Wer sollte schon vor einem Mönch Angst haben?«, hatte sie den Sohn eines Wirtes gefragt, mit dem sie vor der kleinen Kneipe saß und gegen die Kulisse der Pyrenäen schaute. Die Berge sahen im Sonnenlicht aus, als stünden sie in Flammen, und sie boten einen überwältigenden Anblick.
»Das sind andere Mönche.«
»Wieso denn?«
»Sie sind gefährlich.«
»Ich dachte, sie wollten unter sich bleiben.«
»Sie sind trotzdem gefährlich.«
»Warum?«
Der junge Mann hieß Manu. »Weil sie die Menschen hassen. Sie wollen nicht gestört werden. Man erzählt sich, dass sie eine Geschichte haben und einem widerlichen Götzen dienen.«
»Schön, Manu, du weißt Bescheid. Aber kennst du auch einen der Mönche?« Er riss die Augen weit auf und bekreuzigte sich sogar.
»Um Himmels willen, nein.«
»Warum denn nicht?«
»Weil sie uralt sind. Es gibt Leute, die behaupten, dass sie die Jahrhunderte überlebt haben. Sie müssen heute wandelnde Leichen sein.« Er beugte sich vor und schaute Rose scharf an. »Zombies, verstehst du?«
Rose hatte nur gelächelt. »Glaubst du wirklich, dass es Zombies gibt?«
»Ja, hier schon.«
»Ich glaube nicht daran. Du kannst sagen, was du willst, Manu, aber ich muss dorthin.«
Er schlug mit der Faust auf den kleinen Tisch, sodass der anfing zu wackeln und etwas von dem Roten aus den Gläsern überschwappte.
»Warum, zum Teufel?«
»Weil ich die Fotos haben muss.«
»Von Blumen und Pflanzen?«
»Ja, ja.« Rose nickte. »Ich sehe zwar aus wie eine Tramperin, bin es aber nicht. Ich brauche die Fotos für meinen Bericht, denn ich schreibe für ein Umweltmagazin, und dieser Bericht dreht sich nun mal um die Flora in den Bergen.«
»Die sind groß genug.« Manu gab nicht auf. »Geh doch woanders hin.«
»Nein – nein – nein.« Nach jedem Nein trank sie einen Schluck Roten. Sie wollte nicht mehr lange bleiben und stattdessen früh zu Bett gehen, denn der morgige Tag würde anstrengend genug sein, weil sie die schmale Passstraße hoch musste.
Rose Cargill war eine selbstständige junge Frau, die sich durch nichts beeindrucken ließ. Vor allen Dingen setzte sie immer das in die Tat um, was sie sich vorgenommen hatte, und so war sie am anderen Morgen schon sehr früh gestartet und in die Berge gefahren.
Es dauerte bis zum späten Nachmittag, bis sie das Ziel erreicht hatte. Bisher kannte sie es nur von der Karte her, nun war sie zum ersten Mal da, fuhr den Jeep in eine Senke und stieg aus.
Rose lächelte und fühlte sich auf der Hochebene frei wie selten in ihrem Leben. Sie genoss die saubere Luft, während die hohen Berge mit ihren glitzernden Schneegipfeln grüßten.
Ja, hier würde sie bleiben. Das war genau der Ort. Sie freute sich, dass die Karte sie nicht in die Irre geführt hatte, obwohl diese Gegend einsam und sehr unwirtlich war.
An der Nordseite endeten lange Geröllhänge an schroffen Bergkanten. Zum Süden hin sah die Landschaft anders aus. Hier zeigte das Hochtal seine grüne oder lieblichere Seite, auch wenn das Gras mehr einer Steppe ähnelte. Immerhin durchfloss ein kleiner Gebirgsbach diese Talseite. Er war nur in der Hälfte seines Verlaufs sichtbar, denn sehr schnell verschwand er in einem Erdloch.
Im Süden waren die Berge auch nicht so glatt und nah. Sie zeigten oft seltsame Formen, man sah Risse, Spalten und auch Vorsprünge, die in der anbrechenden Dämmerung eine ungewohnte Farbe annahmen.
Ein Berggrat sah aus wie ein auf dem Rücken liegender Indianer.
Rose stieg wieder in den Wagen. Wenn sich schon die Gelegenheit ergab, an einem Bergbach zu campieren, wollte sie diese auch nutzen. Auf der Hinfahrt hatte sie ihn nicht gesehen.
Neben dem glänzenden Wasserlauf hielt sie an. Nicht weit entfernt bildete er einen kleinen See. In diesem See lag viel Treibholz.
Rose ging hin, um es sich näher anzuschauen. Das Holz war verbrannt. Irgendjemand musste hier ein Feuer gemacht haben. In der Wasserfläche sah sie ihr Spiegelbild. Zwar durch Wellen verzerrt, doch sie konnte das blonde Haar erkennen, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Auch die Jeans passten zu ihr, ebenso wie die Stiefel und das karierte Hemd, dessen bunter Stoff unter der grauen abgeschabten Lederjacke schimmerte.
Sie war froh, die Jacke mitgenommen zu haben, denn auf dieser Höhe in
Weitere Kostenlose Bücher