0772 - Das Gericht der Toten
reagierte bei den verschiedenen Benutzern auch verschieden, aber ich wusste noch immer nicht, wer ihn hergestellt hatte oder wer er überhaupt war, denn er bestand ja aus einem ungewöhnlich großen Gerippe.
»Wer hat ihn geschaffen? Wer ist dieses Gerippe? Wem gehören die Knochen?«
Der Richter hatte meine Worte verstanden. Er wischte sie mit einer Handbewegung weg. »Es ist nicht wichtig«, röhrte er und bewegte seinen Kopf in eine bestimmte Richtung. Dort standen die drei Helfer. Auch sie drehten ihren widerlichen Schädel.
Sie schauten sich an. »Tod?«, röhrte der Richter dumpf.
Sie nickten. Zuerst das Wesen mit den zahlreichen Geschwüren.
Dann diese Kreatur der Finsternis, wie ich sie getauft hatte. Und zum Schluss der Abkömmling des Teufels.
Die ganze Szene kam mir vor; als würde sie sich in einem Raum einer Geisterbahn abspielen. Leider traf das nicht zu. Das hier war Ernst, und es würde tödlicher Ernst für mich werden, wenn es mir nicht gelang, einen Ausweg zu finden.
Der Richter nahm den Dolch und schlug mit seinem Griffende gegen das Holz. Der dabei entstehende dumpfe Laut kündigte an, dass er entschlossen war, das Urteil zu vollstrecken.
Er bewegte sich.
»Einen Augenblick noch!«, rief ich und hoffte, dass er innehielt.
Tatsächlich drückte er sich wieder zurück an seinen alten Platz.
»Was willst du denn?«
»Ich weiß nicht, ob du es weißt, aber jeder zum Tode Verurteilte hat noch einen letzten Wunsch. Ich möchte, dass du mir diese Gnade erfüllst. Wirst du das tun?«
»Nein!«
»Warum nicht?«
»Du musst sterben.«
Ich grinste schief, obwohl es mir schwer fiel. »Ich will auch nicht um mein Leben bitten, sondern um das einer anderen Person. Ich kann euch nicht entkommen, ihr habt die Macht.« Ich stapelte bewusst tief. »Aber es gibt hier eine Person, die mit dieser Sache nichts zu tun hat. Sie ist völlig unschuldig. Deshalb möchte ich euch bitten, dass ihr sie freilasst. Sie kann euch nicht gefährlich werden.«
Rose Cargill hatte alles verstanden. »John – du – du bist verrückt. Das kannst du nicht tun.«
»Bitte, Rose!« Ich hoffte, dass sie das Drängen in meiner Stimme verstanden hatte. Tatsächlich hielt sie den Mund.
Wieder bewegten sich die gelben Augenlichter des Richters. Wieder zuckten seine Lippen, und für einen Moment vermehrte sich der blutige Schaum. »Sie hat uns gesehen.«
»Na und? Ist das denn schlimm? Ich glaube nicht. Einige Menschen haben euch im Laufe der langen Jahre gesehen, sodass sich die Legenden bilden konnten. Da kommt es auf sie auch nicht an.«
Der Richter drehte den Kopf. Er schaute Rose an. Ich wusste, dass er sich in den nächsten Sekunden entscheiden würde. Dann sagte er etwas, das Rose und mich erschreckte.
»Ihr Fleisch und ihr Blut ist so frisch…«
Ich schloss für einen Moment die Augen. Das durfte doch nicht wahr sein! Was er hier sagte, ging über meinen Verstand, aber für ihn war es alltäglich.
Auch Rose hatte die Antwort verstanden. Ich hörte sie sprechen, weinen und lachen zugleich. »Das ist doch irre, John. Das kann nicht wahr sein!« Ihre Stimme kippte beinahe über. »Das ist der Irrsinn, das ist schlimmer als in einem…« Ihre Stimme erstarb. Rose konnte das Grauen nicht schaffen, das war einfach zu hoch für sie. Ich konnte mir vorstellen, dass Rose Cargill kurz vor dem Durchdrehen stand, aber ich hatte mich noch nicht geschlagen gegeben.
»Nehmt ihr die Fesseln ab! Tut mir den einen Gefallen. Das ist alles.«
»Warum?«
»Ich möchte, dass sie mich berührt. Ich weiß, dass ich keine Chance mehr habe, aber ich möchte, bevor ich sterbe, noch einmal von einem Menschen umarmt werden. Sie wird euch nicht entkommen, wenn sie frei ist, und ich kann euch auch nicht entwischen. Und es wird sie freuen, sich verabschieden zu dürfen.«
»Sinclair, du bist verrückt!«
»Nein, Rose, nein…« Ich hätte ihr gern mehr gesagt, aber das konnte ich nicht. Es kam einzig und allein auf den Richter an, wie er sich entscheiden würde.
Ich konnte nichts tun. Die Stricke saßen zu fest. Sie hatten sich zwar durch einige meiner Bewegungen etwas gelockert, das reichte jedoch nicht aus.
»Nun?«
Der Richter bewegte seinen blutigen Kopf. Er hatte sich noch nicht entschieden. Dann nickte er, aber nicht in meine Richtung, sondern zu seinen Artgenossen hin.
War das die Entscheidung?
Zumindest eines der drei Wesen bewegte sich. Es war der grünhäutige geschlechtslose Teufel. Bei jedem Schritt kratzte seine hornige
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