0779 - Der Nebelwolf
Kraft nicht so direkt an mich herankam. Mittlerweile hatte ich das Kreuz hervorgeholt. Es hing jetzt offen vor meiner Brust, und es zeigte mir durch ein Flackern an, dass die Gefahr noch längst nicht vorbei war.
Schatten huschten über den Talisman hinweg. Sie verdunkelten ihn. Im nächsten Moment wurde es wieder normal, dann fiel abermals ein Vorhangdarüber, bis es wieder glänzte, als wollte es mir seine Botschaft schicken.
Ivory hatte den Blick seiner dunkler gewordenen Augen gesenkt.
Er wollte nur das Kreuz sehen. Er hasste es plötzlich, denn sein Schrei galt nicht mir, sondern dem Kreuz.
Sein Gesicht verzerrte sich dabei, er schrie noch immer, dann drehte er sich herum. Ich kam zu spät.
Mit einem wuchtigen Schwung katapultierte er sich über die Bordwand hinweg und in das Wasser hinein…
***
Beinahe wäre auch ich gefallen. Es gelang mir noch soeben, das Gleichgewicht zu finden, ich musste mich trotzdem setzen und schaute auf die rechte Seite.
Dort war Ivory verschwunden. Tief eingetaucht, allerdings nicht so tief, als dass ich seinen Körper nicht mehr gesehen hätte. Er war wie ein langer Schatten, der von verschiedenen Armen umgarnt wurde. Wie dunkle Gardinenstücke wehten die langen Schleier auf ihn zu, weil sie ihn umfangen wollten. Er tauchte noch immer kopfüber in die Tiefe, ich sah die strampelnden Beine, dann nichts mehr.
Das Wasser hatte ihn verschluckt. Das Böse hatte ihn sich geholt.
Die tanzenden Wellen, die sich nur allmählich beruhigten, kamen mir dabei vor, als wollten sie mich verhöhnen.
Ich setzte mich auf die mittlere Ruderbank und überlegte, was ich unternehmen konnte.
Ihm nachspringen!
Das war natürlich mein erster Gedanke gewesen, aber die Finsternis des Wassers stand dagegen. Ich war mir sicher, dass ich Ivory nicht finden würde. Zu dunkel und zu schwarz war dieser verfluchte See. Ein kalter Windstoß fuhr gegen mein Gesicht, auch derkonnte die stechenden Schmerzen aus meinem Kopf nicht vertreiben.
Ich stand allein.
Mein Herz schlug schneller, um mich herum war alles leer und trotzdem voll. Wieder versuchte es die andere Kraft. Sie wollte mich ebenfalls in ihren Bann ziehen, sie wollte mich haben, und diese Schwärze war wie Gift.
Zum Glück stemmte sich mein Kreuz dagegen, sodass ich weiterhin ich selbst blieb.
Noch schaukelte das Boot auf den letzten unruhigen Wellen. Sie patschten gegen die Bordwände. Für mich hörte es sich an, als wären Geisterhände aus dem Jenseits dabei, Beifall zu klatschen.
Nichts war von Hoss Ivory zu sehen. Der Kahn und ich standen inmitten des schwarzen Teppichs. Ich kam mir vor wie eine menschliche Insel innerhalb der Aura des Bösen. Die Luft war auch eine andere geworden. Sie kam mir schärfer vor und bitter.
Ich leuchtete mit der Lampe gegen die schwarze Oberfläche. Das Licht traf auch. Es hätte eigentlich eindringen müssen, was leider nicht geschah, denn schon eine Handlänge entfernt wurde es von der unheimlichen Schwärze aufgesaugt.
Da kam ich nicht mehr mit. Hier hatte mich etwas überrascht, das urplötzlich gekommen war. Es musste lange, sehr lange Zeit auf dem Grund des Sumpfes gelauert haben, und es hatte nur eines geringen Anstoßes bedurft, um es in die Höhe zu drücken.
Ivory war ein Opfer dieser Kraft geworden. Bei mir hatte sie es auch versucht, es jedoch nicht geschafft, aber wie ging es weiter?
Was würde mit Hoss Ivory geschehen?
Da er nicht wieder aufgetaucht war, musste ich davon ausgehen, dass er ertrunken war. Seltsamerweise wollte ich daran nicht so recht glauben. Ichvermutete, dass die fremde Kraft etwas anderes mit ihm vorhatte.
Sie lauerte in der unmittelbaren Umgebung des Boots. Aber sie gab mir keine Antwort auf meine Frage. Sie blieb stumm, verschwiegen, irgendwie unheimlich.
Über meinen Rücken rannen kalte Schauer. Die Augen brannten.
Vorwürfe peinigten mich. Ich überlegte noch immer, ob ich nicht doch tauchen sollte. Das hätte keinen Sinn mehr gehabt. Das Wasser lebte, der dunkle Teppich, an manchen Stellen auch aussehend wie ein Rauchglasspiegel, war für mich zu einer lebensbedrohenden Kraft geworden.
Der Vergleich mit einem Urbösen kam mir in den Sinn, und ich fand ihn nicht zu weit hergeholt.
Es musste zudem eine Verbindung zu den Gräbern, den Templern und den Werwölfen geben. Dieses magische Dreieck zeichnete die Grenzen ab, in denen ich mich bewegte.
Das Boot lag wieder ruhig. Keine Kraft bewegte es mehr. Es sah aus, als würde es auf dem schwarzen Spiegel liegen
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