0779 - Der Nebelwolf
anschauen könnten?« Ich hatte mich entschlossen, ihm die Wahrheit zu sagen, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Er machte mir einen offenen und hellwachen Eindruck.
Jim Graves schaute sich den Ausweis genau an. Bevor er ihn mir zurückgab, nickte er. »Scotland Yard«, sagte er leise. »Das ist allerhand. Ein Mann wie Sie legt den Weg bei einem Wetter wie diesem nicht grundlos zurück. Da steckt etwas dahinter.«
»Darüber möchte ich mit Ihnen sprechen.«
»Dann kommen Sie mit«, sagte er in seiner ruhigen Art, die gar nicht zu seinem jungen Alter passen wollte. »Wir werden zu uns gehen, es sind nur ein paar Schritte. Eigentlich ist mein Vater ja der Küster, der aber liegt mit einer Erkältung im Bett. Meine Mutter ist zu Besuch bei ihrer Schwester, und so habe ich den Job übernommen. Wir machen alles nebenbei. Zudem wohne ich eigentlich auch nicht hier. Ich studiere in Oxford, bin praktisch nur zu Besuch.«
»Was studieren Sie denn?«
»Philosophie und Mathematik. Ich versuche es auch noch mit ein wenig Psychologie.«
»Das ist viel.«
»Ja, die Welt ist auch groß, und sie steckt voller Geheimnisse.«
»Da haben Sie Recht.«
Jim Graves wohnte tatsächlich nicht weit von der Kirche entfernt.
Allerdings stand das Haus mit dem weit vorgezogenen Dach nicht mehr auf dem Kirchengelände. Es versteckte sich hinter einigen Bäumen, und einer davon war besonders groß. Eine Trauerweide, die mit ihren Zweigen beinahe den Boden kitzelte. In ihrem kugeligen Ast- und Zweigwerk hatte sich der Dunst verfangen wie ein dichtes Spinngewebe, und es ließ sich auch durch den Wind kaum vertreiben.
Jim Graves holte einen Schlüssel aus der Tasche. »Wie gesagt, mein Vater ist bettlägerig, die Erkältung hat ihm zu schaffen gemacht, und da ist es…«
»Von wegen bettlägerig.« Mit einem Ruck wurde die Tür von innen aufgezogen. »Was erzählst du da für einen Unsinn. Du willst wohl deinen alten Herrn schnell unter die Erde reden, wie?«
»Nein, nein, Dad, um Himmels willen.« Jim trat einen Schritt zurück.
Ich musste lächeln, denn Jims Vater war mir sofort sympathisch.
Er und Hoss Ivory waren sich ziemlich ähnlich. Sie waren beide die knorrigen Typen, die immer so wirkten, als stünden sie kurz vor dem Aufbruch in eine neue Zeit, dann die Ärmel hochkrempelten und sich an die Arbeit machten.
Im Gegensatz zu Ivory wurde das Gesicht des Mr. Graves durch einen grauen Bart geschmückt. Das Haar war ebenfalls grau und wuchs so lang, dass es sich mit dem Bart vereinigte. Er trug eine blaugraue Hose, ein Hemd und eine dicke Strickjacke darüber, die er allerdings nicht zugeknöpft hatte.
»Willst du mich deinem Besucher nicht vorstellen, Jim?«
»Natürlich. Das ist John Sinclair, er kommt aus London, ist Polizist, und das ist mein Vater.«
In den Augen des Mannes blitzte es auf. »Angenehm, Mr. Sinclair. Mein Name ist Malcolm Graves.« Er grinste und ließ meine Hand los, die er ziemlich gequetscht hatte. »Endlich mal so etwas wie Abwechslung in diesem Kaff. Kommen Sie herein, Mr. Sinclair!« Er gab den Weg frei, damit wir eintreten konnten, und ich war froh, wieder einmal auf einen Mann, wie ihn gestoßen zu sein. Nicht alle Bewohner von Trevine waren so offen Fremden gegenüber.
Im Innern sah das Haus so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Bequem, gemütlich, eine Geborgenheit verströmend. Ich sah die Balken an der Decke, die Muster bildeten, ich roch das Feuer im Kamin oder Ofen, ich sah auch eine schmale Treppe, die im Bogen nach oben führte, wir aber brauchten sie nicht zu gehen, sondern schritten durch eine offene Tür in den Wohnraum, der relativ klein, aber gemütlich war. In ihm standen noch alte Möbel, und ein Sofa fiel mir auf, dessen Sitzfläche von einer zerknautschten Decke eingenommen wurde, unter der sicherlich Malcolm Graves gelegen hatte.
Jetzt packte er die Decke und schleuderte sie über eine Stuhllehne.
»Die brauche ich nicht mehr.«
»Dad, du bist doch noch nicht okay.«
Er fuhr herum. »Weißt du das besser als ich? Bist du krank gewesen, oder war ich es?«
»Schon gut, entschuldige.«
Malcolm nickte mir zu. »Immer die Jugend«, sagte er, »weiß alles besser als wir, aber das kenne ich. Früher bin ich nicht anders gewesen, glauben Sie mir.«
»Ja, kann ich mir denken.«
»Mr. Sinclair wollte eigentlich mit dem Pfarrer reden«, sagte Jim.
»Er scheint Probleme zu haben.«
»Klar, sonst wäre er ja nicht hier. Zudem sind Sie, wie ich hörte,
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