0779 - Der Nebelwolf
links. Das war genau der Weg zur Treppe. Ihn und keinen anderen musste er nehmen. Das Kissen hielt er fest, die Arme halb vor sich gestreckt. Um seinen Mund hatte sich ein grausamer Zug gelegt.
Jim erreichte die Treppe. Er ging die Stufen hinab. Sehr langsam, sehr darauf bedacht, nicht zu stolpern. Die schwarze Flut umgab ihn wie ein zitterndes Gebilde. Sie hatte inzwischen die Decke erreicht und sie ebenfalls farblos verändert.
Er lächelte plötzlich, als er die letzte Stufe hinter sich gelassen hatte. Sein Blick war noch immer starr, in die Pupillen hatte sich der stumpfe graue Glanz gelegt. Jim leckte sich über die Lippen, auf denen Speichel zurückblieb.
Dann gab er sich einen Ruck.
Seltsam marionettenhaft ging er durch den schmalen Flur. Die Tür zum Wohnraum stand noch immer offen. Die tödliche Flut umschwamm ihn, er fühlte sich von ihr eingepackt, aber sie hielt ihn nicht auf, er ging unbeirrt weiter.
Das Wohnzimmer zog ihn an wie ein Magnet.
Er durchschritt die Tür.
Dicht hinter der Schwelle blieb er stehen. Sein Kopf drehte sich nach rechts. Dort sah er nichts, nur die Möbel standen dort und malten sich wie kompakte Schatten ab.
Tief holte er Luft. Es sah so aus, als wollte er die Schatten einfach in sich hineinsaugen.
Dann ging er weiter.
Diesmal jedoch in die andere Richtung, denn von dort hatte er schwere Atemzüge gehört. Jim wusste, dass da sein Vater lag, und er wusste genau, was er zu tun hatte. Mit dem Kissen zwischen den Händen legte er auch die letzten Schritte zurück. Vor der Gestalt am Boden blieb er stehen, senkte seinen Kopf und schaute auf sie nieder.
Jim wurde von einer Hitzewelle durchweht. Nur schwach zeichnete sich das Gesicht seines Vaters ab.
Einen Arm hielt er noch immer hoch. Die Hand lag auf dem Rand der Couch, und die Finger hatten sich in den Stoffhineingekrallt.
Nur schaffte er es nicht, sich zu erheben. Jim wusste nicht mal, ob ihn der Vater überhaupt erkannte.
Jim stand direkt neben und auch über ihm und nickte.
Es war wie ein Befehl, den er sich selbst gegeben hatte.
Er führte ihn aus.
Jim beugte sich der liegenden Gestalt entgegen. Sein Vater tat nichts, er schaute nur. Sein Blickfeld auf Jim wurde ihm plötzlich durch das Kissen versperrt, das seinen Weg auf seinen Kopf nahm.
Das Gesicht war wichtig, nur das Gesicht.
Jim stöhnte wohlig auf, als er das Kissen auf den Kopf seines Vaters drückte…
***
Ich hatte dem Schlag nicht ausweichen können und sackte tatsächlich in die Knie. Es war eine sehr heftige Bewegung, die auch eine bestimmte Gegenreaktion auslöste, und zwar bei meinem Kreuz. Es raste in die Höhe.
Das genau war meine Rettung!
Die Bestie schrie auf. Ich sah, wie der Nebelwolf seine Schnauze weit aufriss. Der Kopf befand sich in meiner unmittelbaren Nähe.
Deshalb konnte ich den Wolf auch so gut erkennen. Eine rötlich schimmernde Haut, ein gewaltiges Maul mit gefährlichen Mörderzähnen, die es ausfüllten. Das Gesicht war ungewöhnlich glatt, es wuchs so gut wie kein Fell auf der Haut, und die Augen hatten einen Ausdruck, den ich schon als menschlich bezeichnen konnte.
Das Fell wuchs erst später. Hinter der Stirn, wo sich der übrige Teil des Kopfes befand. Und dann war die Bestie verschwunden. Sie hatte sich wie eine Momentaufnahme in mein Blickfeld gedrückt, bevor die grauen Nebelschlieren sie meinen Blicken entzogen.
Ich hörte das wütende Heulen und die tappenden Geräusche seiner Füße. Echos, die leiser wurden, als die Düsternis die Gestalt verschluckte.
Für mich war die Gefahr vorbei, im Moment zumindest. Ich saß noch immer in der Hocke, befreite mich nur mühsam aus dieser Lage, blieb stehen und schüttelte den Kopf.
Ein kalter Schauder rieselte über meinen Rücken. Ich hatte das Gefühl, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein und schaute dorthin, wo mich die Pranke getroffen hatte.
Ein dreifach Hoch meiner Lederjacke. Sie war so dick, dass mir eine Verletzung erspart geblieben war. Die Pranke der Bestie hatte zwar ihre Spuren auf dem Material hinterlassen, doch über die Kratzer konnte ich nur lachen.
Und ich konnte mich bei meinem Kreuz bedanken. Der Schwung, mit dem es dem Werwolf entgegengeflogen war, hatte mich ebenfalls gerettet, und ich fühlte mich fast wie neugeboren.
In der Ferne hörte ich das wütende Heulen. Oder war es nicht so weit weg? Der Nebel machte es unmöglich, Entfernungen abzuschätzen.
Der Nebelwolf war noch da. Ich hatte ihn nicht erwischen können.
Die schwarze Flut
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