079 - Im Würgegriff des Nachtmahres
Straßen wurden leerer. Hier sah Paris ganz anders aus.
Morna kam in eine Gegend, wo sie noch nie gewesen war.
Aufgrund der Schilder, die sie sah, erkannte sie, daß es eine
Zeitlang Richtung Versailles ging.
Virginie de Ayudelle hatte schon gut und gerne ihre zehn Kilometer
zurückgelegt. Morna besaß ein gutes Gefühl für Entfernungen. Außerdem sprach
die Zeit, die seit dem Verlassen des Ayudelle- Hauses vergangen war, für eine
solche Annahme.
Morna befand sich in einer Allee. Hier zweigte nach rechts eine
schmalere Straße ab. In einer parkähnlichen Anlage standen mehrere Bänke.
Virginie de Ayudelle steuerte auf eine zu und nahm dort Platz: Sie
ruhte sich aus.
Aus sicherer Entfernung wartete die PSA-Agentin die weitere
Entwicklung der Dinge ab.
Die Fabrikantenfrau saß da wie eine Statue.
Morna beobachtete ihr Verhalten genau.
Virginie de Ayudelle hatte etwas vor. Mit ihr geschah etwas. Ihr
Verhalten unterschied sich radikal von allem, was sie bisher getan hatte.
X-GIRL-C konnte das gut beurteilen. Lange genug war sie bei den
Ayudelles, um über Reaktionen und Verhalten Bescheid zu wissen.
Nach einer Pause von zehn Minuten erhob sich Virginie de Ayudelle
und setzte ihren Weg fort.
Sie nahm auch jetzt noch kein Taxi und auch keinen Bus.
Genau wie bei den beiden anderen Frauen, die spurlos aus dem
Ayudelle-Haus verschwanden. Die erste Frau des Fabrikanten war einer
rätselhaften Infektionskrankheit zum Opfer gefallen, schon ein Jahr nach der
Eheschließung mit Edouard de Ayudelle. Das konnte aufgrund der verfügbaren
Daten unter Umständen der einzige normale Todesfall im Hause Ayudelle gewesen
sein.
Nochmals eine ganze Stunde lang ging es weiter, dann schien sie
das Ziel erreicht zu haben, das sie sich vorgenommen hatte.
Rund fünfzehn Kilometer waren sie gelaufen.
Morna spürte ihre Wadenmuskeln.
Virginie de Ayudelle stand vor einem Tor, das in einer rund drei
Meter hohen Mauer eingelassen war, die einen ausgedehnten Park umschloß.
Virginie de Ayudelle ging auf das Tor zu und öffnete es.
Zielstrebig lief sie auf dem breiten Hauptpfad in den Park.
Morna schlüpfte dicht hinter der Davongehenden durch das Tor und
drückte es lautlos wieder zu.
Alles schien für die Ankunft Virginie de Ayudelles vorbereitet zu
sein.
Das unverschlossene Tor wies darauf hin.
Was suchte die Fabrikantenfrau hier? Warum war sie den ganzen Weg
zu Fuß gegangen?
In dem ausgedehnten Park war es stockfinster.
Hoch ragten die Bäume in den nächtlichen, wolkenverhangenen
Himmel.
Morna beschleunigte ihren Schritt und kam merklich näher an die
Verfolgte heran.
Leichtfüßig strebte Virginie de Ayudelle dem düsteren Schloß zu,
das wie eine Erscheinung aus der Vergangenheit hinter den Baumstämmen
emporwuchs.
Morna kam das Ganze immer rätselhafter vor.
Die Fabrikantenfrau benutzte einen Seiteneingang.
Auch hier war die Tür nicht verschlossen.
Virginie de Ayudelle verschwand in dem finster gähnenden Loch.
Schwer schnappte die Tür hinter ihr ins Schloß.
Lauschend blieb Morna zwei Sekunden davor stehen. Die Tür war so
dick, daß keinerlei Geräusche nach draußen drangen.
Morna drückte die schwere Bronzeklinke herab, öffnete die Tür halb
und zwängte sich rasch nach innen.
X-GIRL-C stand unter hoher nervlicher Anspannung. Im Gegensatz zu
Virginie de Ayudelle, die offenbar genau wußte, wo sie sich befand, hatte sie,
Morna, nicht die geringste Ahnung.
Sie tastete sich an der kühlen, kahlen Wand entlang. Der Weg kam
ihr etwas abschüssig vor.
Die Schwedin merkte, daß der Gang einen Knick machte. Vorsichtig
setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie wußte nicht, wohin der nächste
Schritt führte. Wenn plötzlich eine steile Treppe vor ihr in die Tiefe führte,
konnte der Sturz katastrophale Folgen für sie haben.
Nicht ein einziges Mal konnte sie sich informieren, wie ihre
Umgebung aussah und wo sie sich eigentlich befand.
Sie hatte keine Taschenlampe und keine Streichhölzer dabei. Mit
bloßen Händen war sie hierhergekommen. Sie hatte keine Zeit mehr gefunden,
irgend etwas mitzunehmen. Auch bewaffnet war sie nicht. Die Smith & Wesson
Laser lag versteckt in ihrem Zimmer im Ayudelle Haus.
Morna blieb stehen und hielt den Atem an.
Eine unheimliche Stille umgab sie. Sie hörte ihr eigenes Herz
pochen.
Sonst kein Geräusch.
Wo war Virginie de Ayudelle geblieben?
Die Schwedin tastete sich weiter an der Wand entlang und spürte
plötzlich die scharfe steinerne Kante neben sich. Sie vermutete,
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