0794 - Das Zauber-Zimmer
weil sich der winterliche Wind hineindrehte. Er spielte ebenso mit dem nahe stehenden trockenen Gestrüpp. Zweige bewegten sich und berührten einander. Es hörte sich an, als wären Totenhände dabei, über alte Haut zu kratzen.
Harry nickte mir zu. »Mach schon. Ich möchte nämlich nicht hier festfrieren.«
»Keine Sorge, du kommst schon früh genug zu unseren Zombies.«
»All right, einigen wir uns darauf.«
Ich hatte die Tür weiter aufgedrückt und starrte hinein in das Düster der vorderen und kleinen Hotelhalle. Dort bewegte sich nichts, nur wir erschienen aus dem leeren Grau und tauchten in das Dunkel ein, wo wir sofort stehen blieben. So leise wie möglich drückte der Kommissar die Tür wieder zu.
Dann trat er neben mich, und dabei war so gut wie kein Geräusch zu hören.
Wir wussten beide, was wir zu tun hatten. Den Atem anhalten, uns nicht bewegen, damit das Rascheln der Kleidung uns nicht verriet.
Das Hotel ›schlief‹.
Ein stiller, starrer, alter Kasten, in dem es nicht einmal knackte oder kratzte. Diese schon unnatürliche Ruhe zerrte an unseren Nerven. Schattenhaft erkannte ich, wie der Kommissar seine Hände bewegte. Mal waren sie ausgestreckt, dann wiederum bildeten sie Fäuste. In der Dunkelheit glänzten die Augen wie nächtliche Teiche.
Ich hörte ihn atmen, dann flüstern. »Wir sollten endlich losgehen, John, sonst…«
»Ja, zuerst hier unten.«
»Hat das einen Grund?«
Ich grinste, obwohl es Harry nicht sehen konnte. »Vielleicht spielt man uns wieder auf.«
»Klar, ich liebe die Zigeuner-Orchester.«
Ich hatte inzwischen die Tür zur zweiten Halle erreicht und wollte sie schon aufstoßen, als uns das rumpelnde und polternde Geräusch beide zugleich erschreckte.
Sofort sank meine Hand nach unten, und ich drehte mich nach links, denn in die Richtung schaute auch der Kommissar. Beide blickten wir gegen die Wand, und zwar dorthin, wo sich der alte Lift befand, denn er musste der Grund dieses Geräusches sein.
»Verdammt, da fährt doch einer.«
»Wer denn?«
Ich hob die Schultern. »Vielleicht ein Toter, dem es Spaß macht. Hier ist alles möglich.«
Harry sagte nichts. Er hatte nur die Augenbrauen gehoben und wartete ab.
Der Lift fuhr nach oben – oder?
Nein, jetzt hörte es sich an, als würde er wieder den Weg nach unten nehmen. Wir standen gebannt auf dem Platz und verfolgten die Geräusche. Tatsächlich, er kam zurück. Ein letztes Schleifen und leises Rumpeln, dann war es still.
»Er ist da!«, hauchte Harry Stahl.
»Sieht ganz so aus.«
»Willst du die Tür aufziehen?«
»Gib mir Rückendeckung!«
»Mach ich.« Harry zog seine Waffe.
Ich bewegte mich auf den Fahrstuhl zu. Licht brauchte ich nicht.
Selbst in der Dunkelheit schimmerte der Griff. Ich visierte ihn zwar an, aber ich berührte ihn noch nicht, denn eine in meinem Unterbewusstsein aufgetauchte Warnung hielt mich davon ab.
»Stimmt was nicht?«
»Keine Ahnung.«
Harry Stahl zielte auf die Tür. »Du kannst es ruhig wagen, denn…«
Er verstummte.
Ich stand starr.
Beide hörten wir wieder die Geigenmusik. Diesmal erklang die Melodie aus dem Fahrstuhl, hinter der geschlossenen Tür.
Thais Meditation von Jules Massenet…
»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte Harry. »Jetzt sind sie in der Kabine?«
»Das werden wir gleich haben«, erwiderte ich und zerrte die Tür mit einer heftigen Bewegung auf.
Tatsächlich, da standen sie!
In diesen Augenblicken sah ich so deutlich wie nie zuvor. Ihre Gesichter waren mir sehr nahe, und in ihren Zügen las ich all den Weltschmerz, den sie fühlten. In der Kabine gab eine einsame Lampe nur wenig Licht ab, aber es reichte aus.
Die traurigen Melodien hüllten mich ein. Keiner der drei traf Anstalten, den Aufzug zu verlassen. Der Pianospieler, jetzt natürlich ohne Instrument, nickte mir zu. Als er lächelte, sah es so aus, als wollte er anfangen zu weinen. Glück und Trauer lagen eben dicht beieinander. In den Augen schimmerte es feucht. Große, dunkelbraune Pupillen fielen mir auf. Das schwarze Haar zeigte einen breiten Scheitel. Es lag so flach auf seinem Kopf wie eine Kappe.
Auch die Geiger hinter ihm lächelten wehmütig. Sie ließen ihre Bögen sanft über die Saiten streichen, aber keiner von ihnen sprach mich an, obwohl es so aussah, als wollten sie mit mir kommunizieren. Das tat zumindest der Chef des Trios, allerdings in einer ihm eigenen Körpersprache. Er beugte sich vor und gleichzeitig zur Seite.
Mir kam dies einer einladenden Bewegung
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