08 - Ehrenschuld
erlebten, was wirklich gut bezahlte Industriearbeit heißt, sich genauso fleißig ins Zeug legten wie ihre japanischen Kollegen - und außerdem kreativer als sie, wie ihre j apanischen Vorgesetzten sich im stillen und in internen Memoranden an die Unternehmensführung eingestanden. Ein ganzes Dutzend bedeutender Neuerungen, die von Arbeitern am Band allein in diesem Jahr vorgeschlagen worden waren, waren in entsprechenden Fabriken sechstausend Meilen weiter westlich auf Anhieb übernommen worden.
Den Vorgesetzten selbst machte das Leben in »Middle America« großen Spaß. Sowohl vom Preis der Häuser als auch von den weiträumigen Gärten, die sie umgaben, waren sie angenehm überrascht, und nachdem das anfängliche Unbehagen, in einem fremden Land zu sein, sich gelegt hatte, erlagen sie nach und nach der Gastfreundschaft der Einheimischen, trafen sich mit den örtlichen Anwälten auf dem Golfplatz, machten kurz für einen Burger bei McDonald's halt und sahen ihren Kindern zu, die mit den einheimischen Kids T-Ball spielten, vielfach erstaunt über die freundliche Aufnahme, weil sie etwas anderes erwartet hatten. (Die örtliche TVKabelgesellschaft hatte für die zweihundert Familien, denen es nach Heimatlichem verlangte, sogar NHK eingespeist.) Derweil erzeugten sie außerdem einen hübschen Gewinn für ihre Konzernmutter, die jetzt in der leidigen Situation war, mit den in Japan produzierten Crestas kaum die Kosten einzuspielen, weil die Fabrik in Kentucky eine unerwartet hohe Produktivität erzielte und der Dollar gegenüber dem Yen weiterhin nachgab. Deshalb hatte man gerade in dieser Woche zusätzliche Flächen angekauft, um die Kapazität der Fabrik um sechzig Prozent aufzustocken. Eine dritte Schicht war zwar möglich, hätte aber die Wartung der Produktionsanlagen eingeschränkt, mit negativen Auswirkungen auf die Qualitätskontrolle, einem Risiko, das die Firma angesichts der frischen Konkurrenz aus Detroit nicht eingehen wollte.
In einem frühen Montagestadium waren zwei Arbeiter damit beschäftigt, die Benzintanks an den Rahmen zu befestigen. Einer holte den Tank abseits des Montagebandes aus seinem Versandkarton und setzte ihn auf ein Förderband, das ihn zu dem zweiten Arbeiter brachte, der die Aufgabe hatte, das leichte, aber sperrige Objekt von Hand einzusetzen. Bevor der Arbeiter den Tank dauerhaft befestigte, wurde dieser kurzfristig von Plastikschlaufen festgehalten, die anschließend entfernt wurden, ehe das Chassis zur nächsten Station weiterwanderte.
Der Frau im Lager fiel auf, daß die Pappe feucht war. Sie hielt die Hand an die Nase und roch das Meersalz. Man hatte den Container, mit dem diese Ladung Benzintanks gekommen war, nicht richtig verschlossen, und eine stürmische See war in ihn eingedrungen. Ein Glück, dachte sie, daß die Tanks wetterfest versiegelt und galvanisiert waren. Fünfzehn bis zwanzig Tanks waren dem Meerwasser ausgesetzt gewesen. Sie dachte daran, es dem Vorgesetzten zu melden, aber als sie sich nach ihm umschaute, war er nicht da. Sie hatte die für einen Montagearbeiter sehr seltene Machtbefugnis, das Band nach eigenem Ermessen zu stoppen, bis die Frage der Benzintanks geklärt sein würde. Theoretisch hatte jeder Mitarbeiter diese Befugnis, aber sie war neu hier und suchte dringend nach dem Vorgesetzten, um die Meldung zu erstatten. Während sie sich weiter nach ihm umsah, hätte sie durch ihre Untätigkeit fast das Band gestoppt, doch da pfiff ihr ein Arbeiter vom Band her zu. Na ja, so wichtig war es auch wieder nicht. Sie setzte den Tank auf das Förderband und hatte ihn, als sie den nächsten Karton aufmachte, schon vergessen. Sie würde nie erfahren, daß sie ein Glied in einer Kette von Ereignissen war, die in Kürze eine Familie töten und zwei andere Menschen verletzen sollte.
Zwei Minuten später war der Tank an einem Cresta-Chassis befestigt, und das unfertige Auto wanderte weiter auf dem scheinbar endlosen Band auf ein offenes Tor zu, das von dieser Station aus nicht einmal zu sehen war. Nach und nach würden die übrigen Teile des Autos auf den Stahlrahmen montiert werden, und schließlich würde es aus der Halle rollen als ein kandisapfelroter Wagen, den eine Familie in Greeneville, Tennessee, bereits bestellt hatte. Die Farbe war gewählt worden zu Ehren der Frau, Candace Denton, die ihrem Mann Pierce gerade seinen .ersten Sohn geschenkt hatte, nach zwei Töchtern drei Jahre zuvor. Es würde für das junge Paar der erste fabrikneue Wagen überhaupt
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