08 - Im Angesicht des Feindes
herumzukommandieren. Aber sie teilte dieses wenige in vertraulichem Ton und mit einer Miene des Ganz-unter-Uns mit, und das wirkte offenbar so überzeugend auf die gute Mrs. Howe, daß sie ihrerseits mit ein paar Häppchen aufwartete.
Mrs. Howe hatte für Mr. Harvie nicht viel übrig, wie Barbara bald merkte. Er war ihr zu selbstgefällig. Aber er verstand es mit den Wählern und hatte es geschafft, zwei ernsthafte Herausforderungen der Liberal-Demokraten abzuwehren, und dafür schuldete man ihm Loyalität.
Er war in Warminster geboren. Er hatte Winchester College, Englands älteste Privatschule, besucht und danach die Universität von Exeter. Er hatte Betriebswirtschaft studiert, erfolgreich die Anlagenabteilung der Barclay's Bank hier in Salisbury geleitet, mit großem Einsatz für die Partei gearbeitet und sich schließlich mit neunundzwanzig zur Wahl ins Parlament gestellt. Er hatte seinen Sitz seit nunmehr dreizehn Jahren inne.
Er war seit achtzehn Jahren mit derselben Frau verheiratet. Sie hatten die politisch erforderlichen zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die, wenn sie nicht im Internat waren - wie selbstverständlich im Augenblick-, mit ihrer Mutter außerhalb von Salisbury in einem Dorf namens Ford lebten. Der Hof der Familie - »Hof?« unterbrach Barbara. »Harvie hat einen Hof? Ich dachte, er wäre Banker.«
Den Hof hatte seine Frau von ihren Eltern geerbt. Die Harvies bewohnten das Haus, doch das Land wurde von einem Pächter bewirtschaftet. Warum Barbara das wissen wolle, fragte Mrs. Howe. Ihre Nasenflügel vibrierten. Ob der Hof denn von Bedeutung sei?
Barbara hatte auf diese Frage keine schlüssige Antwort und erhielt auch keine, als sie das Anwesen etwa eine Dreiviertelstunde später sah. Es war am Dorfrand, und als sie ihren Wagen im rautenförmig angelegten Hof anhielt, ließ sich außer sechs überaus wohlgenährten Gänsen niemand sehen, um sie zu empfangen. Das aufgeregte Geschnatter der Gänse war so laut, daß es jeden in der näheren Umgebung hätte aufmerksam machen müssen. Als weder aus dem Stall jemand mit gezückter Mistgabel stürzte, noch aus dem imposanten Wohnhaus jemand mit drohend erhobenem Nudelholz, schloß Barbara daraus, daß sie den Hof für sich hatte.
Von ihrem Auto aus, umgeben von den immer noch entrüstet schnatternden Gänsen - der Radau, den sie veranstalteten, war so laut wie Hundegebell und ebenso bedrohlich -, verschaffte sich Barbara zunächst einen Überblick. Das ganze Anwesen bestand aus dem Wohnhaus, dem Stall, einer alten Scheune und einem noch älteren Taubenhaus aus Backstein. Letzteres erregte ihre Aufmerksamkeit. Es war zylindrisch und hatte ein Schieferdach mit einer laternenförmigen, unverglasten Kuppel, durch die die Vögel ins Innere einfliegen konnten. Auf einer Seite war es mit Efeu überwachsen. An einigen Stellen, wo Schindeln entweder herausgenommen worden oder zerbrochen waren, klafften Löcher im Dach. Die in einer tiefen Nische sitzende Tür war grau, verwittert und voller Flechten; sie sah aus, als wäre sie in den letzten zwanzig Jahren überhaupt nicht mehr geöffnet worden.
Aber irgend etwas an dem Bau stieß eine Erinnerung an. Sie vermerkte bewußt seine Einzelheiten, um dahinterzukommen, was es war: das Schieferdach, die Kuppel, der Efeubewuchs, die verwitterte Tür ... Irgend etwas, was Sergeant Stanley gesagt, was der Pathologe gesagt, was Robin Payne gesagt, was Lynley gesagt hatte ...
Es half nichts. Es fiel ihr nicht ein. Aber es beschäftigte sie doch so sehr, daß sie es wagte, vor den schnappenden Gänseschnäbeln die Wagentür aufzustoßen.
Das Geschnatter der Gänse steigerte sich zum Crescendo. Sie waren besser als Wachhunde. Barbara öffnete das Handschuhfach und wühlte darin herum. Vielleicht ließ sich etwas Eßbares auftreiben, was die Gänseschar ablenken würde, während sie auf Inspektion ging. Sie fand einen angebrochenen Beutel Chips und bedauerte flüchtig, daß sie ihn nicht am Abend zuvor, als sie mit knurrendem Magen im Stau gesessen hatte, entdeckt hatte. Sie kostete davon. Ein bißchen alt schmeckten sie, aber egal. Sie schob ihren Arm durch das offene Fenster und verstreute die Chips zur Beschäftigung der Vogelgötter auf dem Boden. Die Gänse machten sich sofort darüber her. Dieses Problem war also zumindest fürs erste gelöst.
Der Form halber läutete Barbara zuerst an der Haustür. Dann rief sie ein freundliches »Hallo?« in den Stall. Sie ging langsam durch den Hof und schwenkte
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