08 - Im Angesicht des Feindes
Helen.
Die Abgeordnete hörte die unausgesprochene, aber unvermeidbare Frage hinter Helens Worten: Ließ man ein zehnjähriges Mädchen unbeaufsichtigt in London umherwandern? Sie sagte: »Heutzutage laufen die Kinder in Rudeln herum, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten. Charlotte dürfte kaum allein gewesen sein. Wenn es wirklich einmal der Fall ist, versucht Mrs. Maguire sie zu begleiten.«
»Versucht.« Das Wort war Helen nicht entgangen.
»Charlotte gefällt es nicht besonders, wenn ihr eine übergewichtige Irin in ausgebeulten Leggings und einem mottenzerfressenen Pullover hinterherschleicht. Aber sind wir nun hier, um meine Erziehungsmethoden zu besprechen, oder um uns darüber Gedanken zu machen, was meiner Tochter zugestoßen ist?«
St. James spürte Helens Reaktion auf die Worte, auch wenn ihr nichts anzusehen war. Die Luft schien zu knistern, als die Feindseligkeit, die die eine Frau ausstrahlte, auf die Ungläubigkeit der anderen stieß. Doch diese Emotionen würden ihnen bei der Suche nach dem Kind nicht weiterhelfen. Er griff deshalb wieder in das Gespräch ein.
»Und nachdem Mrs. Maguire festgestellt hatte, daß Charlotte bei keiner ihrer Schulkameradinnen war, hat sie Sie immer noch nicht angerufen?«
»Ich hatte ihr nach einem Zwischenfall im letzten Monat sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß sie während meiner Abwesenheit die alleinige Verantwortung für meine Tochter trägt.«
»Was war das für ein Zwischenfall?«
»Ach, ein typisches Beispiel von Charlottes Dickköpfigkeit.«
Die Abgeordnete trank wieder ein Schlückchen Wein. »Charlotte hatte sich im Heizungskeller ihrer Schule versteckt - St.-Bernadette in der Blandford Street -, weil sie nicht in ihre Therapie wollte. Sie geht jede Woche, sie weiß, daß sie gehen muß, aber einmal im Monat beschließt sie, nicht kooperieren zu wollen. Das war so eine Gelegenheit. Mrs. Maguire rief mich in heller Panik an, als Charlotte nicht pünktlich nach Hause kam, um zur Therapie zu gehen. Ich mußte im Büro alles stehen- und liegenlassen und sie suchen. Danach habe ich mich mit Mrs. Maguire hingesetzt und ihr ein für allemal klargemacht, wie ihre Pflichten meiner Tochter gegenüber aussehen und von wann bis wann sie diese Pflichten zu erfüllen habe.«
Helen schien völlig perplex über die Erziehungspraktiken der Abgeordneten und drauf und dran, die Frau von neuem ins Verhör zu nehmen. St. James kam ihr zuvor. Es hatte keinen Sinn, die Staatssekretärin noch mehr in die Defensive zu drängen, zumindest im Moment nicht.
»Wo findet der Musikunterricht statt?«
Nicht weit von der Grundschule, erklärte Eve Bowen, im Cross Keys Close, in der Nähe der Marylebone High Street. Charlotte ging jeden Mittwoch nach der Schule direkt dorthin. Ihr Lehrer war ein Mann namens Damien Chambers.
»Und war Ihre Tochter heute in der Musikstunde?«
Ja, sie war dort gewesen. Mrs. Maguire hatte gleich als erstes bei Mr. Chambers angerufen, als sie um sechs mit der Suche nach Charlotte begonnen hatte.
»Dann müssen wir mit diesem Mann sprechen«, sagte St. James. »Und er wird wahrscheinlich wissen wollen, warum wir ihn befragen. Haben Sie das berücksichtigt und sich überlegt, wohin das führen kann?«
Eve Bowen hatte sich offenbar bereits damit abgefunden, daß es auch bei einer privaten Untersuchung des Verschwindens ihrer Tochter nicht zu vermeiden war, die Leute zu befragen, die sie zuletzt gesehen hatten. Und ebendiese Leute würden sich zweifellos ihre Gedanken darüber machen, warum ein verkrüppelter Mann und eine Frau sich nach dem Kind erkundigten. Das war nicht zu ändern. Ihre Neugier würde die Befragten vielleicht dazu verleiten, der Presse einen Tip zu geben, der Interesse weckte, aber Charlottes Mutter war offenbar bereit, dieses Risiko einzugehen.
»So, wie wir es anpacken, kann die Story nur Spekulation sein«, sagte sie. »Wenn die Polizei eingreift, ist es definitiv.«
»Eine Spekulation, die sich zur Katastrophe auswachsen kann«, sagte St. James. »Sie müssen die Polizei hinzuziehen, Mrs. Bowen. Wenn nicht die zuständige Dienststelle, dann Scotland Yard. Sie haben dank Ihrer Stellung beim Innenministerium den nötigen Einfluß, das durchzusetzen, würde ich vermuten.«
»Ich habe den Einfluß. Und ich will keine Polizei. Das kommt gar nicht in Frage.«
Ihr Gesichtsausdruck war unerbittlich. Er und Helen, das war St. James klar, könnten noch Stunden über diesen Punkt mit ihr diskutieren, ohne daß etwas dabei
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