08 - Im Angesicht des Feindes
herauskommen würde. Das, worauf es vor allem andern ankam, war, das Kind zu finden - und zwar schnell. Er bat um eine Beschreibung des kleinen Mädchens, wie es an diesem Morgen ausgesehen hatte, und um eine Fotografie. Eve Bowen sagte ihnen, daß sie ihre Tochter an diesem Morgen nicht gesehen hatte, daß sie Charlotte morgens niemals zu Gesicht bekam, weil sie stets schon vor dem Erwachen des Kindes das Haus verließ. Aber sie hatte natürlich ihre Schuluniform an. Oben, sagte sie, sei irgendwo ein Foto von ihr, auf dem sie die Uniform trage. Sie ging hinaus, um die Aufnahme zu holen. Die beiden hörten, wie sie die Treppe hinaufstieg.
»Das ist doch mehr als merkwürdig, Simon«, sagte Helen leise, sobald sie allein waren. »So, wie diese Frau sich verhält, könnte man beinahe glauben ...« Sie zögerte. Sie schlang ihre Arme um ihren Oberkörper. »Findest du ihre Reaktion auf Charlottes Verschwinden nicht reichlich unnatürlich?«
St. James stand auf und trat zu der Wandnische beim Kamin, um sich die Trophäen anzusehen. Sie trugen alle Eve Bowens Namen und waren ihr für ihre Leistungen im Dressurreiten zuerkannt worden. Es schien sehr passend, daß sie mehr als ein Dutzend erster Plätze in gerade dieser Sportart erobert hatte. Er hätte gern gewußt, ob ihr politischer Stab ebensogut parierte, wie ihre Pferde es offensichtlich getan hatten.
»Sie glaubt, daß Luxford die Hand im Spiel hat, Helen«, sagte er. »Und er würde nicht daran denken, dem Kind etwas anzutun. Ihm ginge es nur darum, der Mutter einen Schrecken einzujagen. Aber sie scheint entschlossen zu sein, sich keinen Schrecken einjagen zu lassen.«
»Trotzdem - hier, ganz privat, hätte ich schon ein oder zwei Risse im Panzer erwartet.«
»Sie ist Politikerin. Sie will sich auf keinen Fall in die Karten schauen lassen.«
»Aber es geht doch um ihre Tochter! Wieso läuft das Kind allein auf der Straße herum? Und was hat ihre Mutter von heute abend sieben bis jetzt getan?« Helen wies zum Tisch mit dem Aktenkoffer und den Papieren, die unter dem zugeklappten Deckel heraushingen. »Ich hätte nicht erwartet, daß die Mutter eines entführten Kindes - ganz gleich, von wem es ihrer Meinung nach entführt wurde - die Ruhe hat, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Das ist doch nicht normal. Das alles ist nicht normal.«
»Ich bin ganz deiner Meinung. Aber ich denke, sie weiß sehr wohl, wie das auf uns wirken muß. Sie hätte es nicht in so kurzer Zeit dahin gebracht, wo sie heute steht, wenn sie nicht stets vorher gewußt hätte, wie die Dinge wirken würden.« St. James musterte eine Galerie von Fotografien, die unter drei Grünpflanzen auf einem schmalen Chromtisch mit Glasplatte aufgereiht waren. Er bemerkte ein Bild, das Eve Bowen mit dem Premierminister zeigte, ein anderes mit Eve Bowen und dem Innenminister, ein drittes von Eve Bowen Seite an Seite mit der Prinzessin von Wales, die eine recht spärliche Versammlung von Polizeibeamten willkommen hieß.
»Die Dinge«, sagte Helen, leicht ironisch den Ausdruck wiederholend, den St. James gewählt hatte, »wirken für meine Begriffe bemerkenswert distanziert.«
Draußen wurde die Haustür aufgesperrt, noch während Helen sprach. Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Der Riegel wurde wieder vorgelegt. Schritte knallten auf den Fliesen, und ein Mann erschien an der Tür zum Wohnzimmer, gut eins achtzig groß, hager, mit schmalen Schultern. Seine teefarbenen Augen schweiften von St. James zu Helen, doch zunächst sagte er nichts. Er wirkte müde, und sein hellbraunes Haar war jungenhaft zerzaust, als hätte er sich zur Belebung seines Kreislaufs den Kopf massiert.
»Guten Abend«, sagte er schließlich. »Wo ist Eve?«
»Oben«, antwortete St. James. »Sie sucht ein Foto.«
»Ein Foto?« Er warf Helen einen Blick zu und sah dann wieder St. James an. Etwas in ihren Gesichtern schien ihn stutzig zu machen: Sein Ton, der bisher freundlich gleichgültig gewesen war, wurde plötzlich argwöhnisch. »Was geht hier vor?« fragte er mit einer aggressiven Schärfe im Ton, die darauf schließen ließ, daß er es gewöhnt war, sofort und ehrerbietig Antwort zu erhalten. Offenbar empfingen auch Regierungsmitglieder nur dann Gäste kurz vor Mitternacht, wenn etwas Schwerwiegendes vorlag. »Eve?« rief er nach oben, ehe er sich wieder St. James zuwandte und fragte: »Ist etwas passiert? Ist mit Eve alles in Ordnung? Hat der Premierminister-«
»Alex!«
St. James konnte Eve Bowen nicht
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