08 - Im Angesicht des Feindes
würden.
Nichts als Lüge. Nichts als ein Märchen, das er sich selbst erzählt hatte, weil er die Realität, die vor seinen Augen ablief, nicht hatte sehen wollen. Die Menschen änderten sich im Grunde nicht. Sie warfen ihre Maske nur dann ab, wenn sie sich sicher glaubten oder wenn schwere Belastungen die Fassade zertrümmerten, wie es bei langgehegtem Kinderglauben geschah. Die Eve, die er liebte, war in Wirklichkeit nicht anders als der Weihnachtsmann, der Sandmann, das Christkind, der schwarze Mann, der Todesengel. Alex war ein Phantast. Und indem Eve die Rolle gespielt hatte, die er für sie vorgesehen hatte, war sie das phantastische Geschöpf gewesen, das er sich gewünscht hatte. Er also war der Urheber der Lüge. Und er mußte die Konsequenzen aus dieser Lüge ziehen.
Schwerfällig stand er vom Bett auf. Wie zuvor seine Frau ging er zum Kleiderschrank und begann sich anzukleiden.
Robin Payne fuhr den Wagen. Er brauste mit hohem Tempo in östlicher Richtung auf der Landstraße nach Burbage dahin. Er sprach schnell, während er von seinen Streifzügen kreuz und quer durch die Region erzählte. Die Ziegelsteine und der Maibaum hätten ihn hellhörig gemacht, erklärte er Barbara. Als er das gehört habe, sei ihm eine Idee gekommen, aber es habe so viele Möglichkeiten gegeben, daß er jede einzelne habe überprüfen wollen, ehe er irgendwelche Behauptungen bezüglich Charlotte Bowens Versteck aufstellte. Diese ganze Gegend hier sei ja Ackerland, fügte er erläuternd hinzu, obwohl völlig unklar war, worauf er eigentlich hinauswollte. Und das Hauptanbaugut sei Weizen.
»Was hat Weizen mit Charlotte Bowen zu tun?« fragte Barbara. »Bei der Autopsie hat nichts -«
Sie solle sich gedulden, versetzte Robin. Dies war offensichtlich sein großer Moment, und er wollte ihn auf seine Weise genießen.
Überall sei er gewesen, erzählte er weiter. Im Westen bis Freshford, im Süden bis Shaftsbury, seine Nachforschungen hätten sich über ein sehr weites Gebiet erstreckt. Aber da er dank der Hinweise des kleinen Mädchens auf Ziegelsteine und einen Maibaum ziemlich genau gewußt habe, wonach er zu suchen hatte, sei nur eine beschränkte Anzahl, wenn auch weit verstreut liegender Orte in Frage gekommen. Dennoch habe er in Dutzenden dieser Löcher herumkriechen müssen, deshalb sehe er auch so verdreckt aus.
»Wohin fahren wir eigentlich?« fragte Barbara, während sie auf der unbeleuchteten Straße, die auf beiden Seiten von dichtstehenden Bäumen gesäumt war, durch die Dunkelheit rasten.
»Nicht weit«, war alles, was er antwortete.
Auf der Fahrt durch ein Dorf mit strohgedeckten Backsteinhäusern berichtete sie ihm, was sich in London getan hatte, und gab alles, was sie von Lynley erfahren hatte, an ihn weiter. Nachdem sie ihm von den übereinstimmenden Fingerabdrücken bis zu der Fahndung nach dem Stadtstreicher alles erzählt hatte, schloß sie mit der Neuigkeit vom Verschwinden Leo Luxfords.
Robin Payne umfaßte das Lenkrad fester. »Schon wieder eine Entführung?« fragte er scharf. »Und diesmal ist es ein kleiner Junge? Was zum Teufel geht da eigentlich vor?«
»Er ist vielleicht auch in Wiltshire, genau wie Charlotte.«
»Wann ist er verschwunden?«
»Nach vier Uhr heute nachmittag.« Sie sah, wie er nachdenklich die Stirn runzelte. »Was ist?« fragte sie.
»Ich hab' nur gerade überlegt ...« Robin schaltete herunter, als sie links abbogen und auf einer schmäleren Straße, die laut Wegweiser nach Great Bedwyn führte, in nördlicher Richtung weiterfuhren. »Die Zeit stimmt nicht, aber wenn er - wie heißt er gleich wieder?«
»Leo.«
»Wenn Leo gegen vier Uhr entführt worden ist, könnte er, hab' ich mir gedacht, auch hier draußen versteckt sein. Wo Charlotte versteckt war. Aber dann hätte ihn der Kidnapper, lang bevor ich die Stelle gefunden hatte, hierherbringen müssen, stimmt's? Und dann hätte ich ihn finden müssen - da draußen ... « Er wies durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit. »Aber ich hab' ihn nicht gefunden.« Er seufzte tief.
»Ach, verdammt. Vielleicht ist es doch nicht der richtige Ort, und ich hab' Sie mitten in der Nacht ganz umsonst hier rausgejagt.«
»Das wäre heute nicht das erstemal, daß ich umsonst losgezogen bin«, erwiderte Barbara. »Aber wenigstens bin ich diesmal in angenehmerer Gesellschaft. Also, gehen wir bis zum bitteren Ende.«
Die Straße verengte sich erneut. Das Licht der Scheinwerfer beleuchtete nur die Fahrbahn, die von Efeu umrankten
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