08 - Im Angesicht des Feindes
hätte es tun können. Er hätte es unter dem Vorwand tun können, ihr erzählen zu wollen, daß er St. James besucht habe und sich für den Auftritt, den er am Montagnachmittag provoziert hatte, entschuldigt habe. Doch Helens Beschäftigung am Montagabend - dieses Aussortieren völlig unbrauchbarer Kleidung für die Armen Afrikas - war von einer starken unterschwelligen Emotion diktiert gewesen, und er war ziemlich sicher, wenn er mit ihr spräche, würde er genau erfahren, was für eine Emotion das war. Da ihr derzeitiger Gemüts- und Seelenzustand offensichtlich das Ergebnis seines Angriffs auf sie und ihre gemeinsamen Freunde war, würde er, wenn er sich ihr jetzt näherte, riskieren, etwas zu hören zu bekommen, was er lieber nicht hören wollte.
Ihr aus dem Weg zu gehen war reine emotionale Feigheit, das wußte er nur zu gut. Er versuchte, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung, weil er hoffte, die Dinge würden sich dann von selbst regeln. Auch die Tatsache, daß er am Vortag das Frühstück einfach ausgelassen hatte, gehörte zu dieser Vermeidungsstrategie. Durch den Tag zu hetzen, vollauf in Anspruch genommen von den Einzelheiten der Untersuchung, war besser, als das Herz von der Furcht umklammert zu fühlen, er könne durch seine dickköpfige Dummheit verloren oder unheilbar beschädigt haben, was ihm das Teuerste war. Seinen menschlichen Geschöpfen die Fähigkeit zu lieben mitzugeben war bestimmt das Raffinierteste, was Gott sich zum eigenen Amüsement hatte einfallen lassen, dachte Lynley. Erst läßt du sie in Liebe füreinander entbrennen, und dann läßt du sie sich gegenseitig zum Wahnsinn treiben, mußte er sich überlegt haben. Es wird ein Riesenspaß werden, das Chaos zu beobachten, das entstehen wird, wenn ich bei der Mann-Frau-Mischung genau das richtige Spannungsverhältnis erwische.
In seinem Leben jedenfalls war das totale Chaos eingekehrt, gestand sich Lynley ein. Seit er vor achtzehn Monaten erkannt hatte, daß er Helen liebte, kam er sich vor wie Cranes Mensch auf der Jagd nach dem Horizont. Je eifriger er sich bemühte, sein Ziel zu erreichen, desto weiter schien es sich zu entfernen.
Er stand vom Eßtisch auf und knüllte die Leinenserviette zusammen, als Denton ins Zimmer kam. »Haben Sie die Micawbers zum Frühstück erwartet?« erkundigte sich Lynley freundlich.
Die Anspielung ging an dem jungen Mann wie gewöhnlich vorbei. Wenn es nicht von Andrew Lloyd Webber zum Konsum im West-End kreiert war, existierte es ganz einfach nicht.
»Pardon?« fragte Denton.
»Nichts«, sagte Lynley.
»Dann Abendessen heute?«
Lynley wies mit dem Kopf zum Büffet. »Wärmen Sie das auf.«
Denton dämmerte es. »Habe ich zuviel vorbereitet? Na ja, ich war nicht sicher, ob ›für eine Person‹ wirklich nur ›für eine Person‹ heißen sollte.« Er warf einen vorsichtigen Blick auf Helens leeren Platz. »Ich meine, ich habe Ihren Zettel natürlich gesehen, aber ich dachte, Lady Helen würde ...« Irgendwie schaffte er es, ernsthaft, reuig und besorgt zugleich auszusehen. »Sie kennen ja die Frauen.«
»Offensichtlich nicht so gut, wie Sie sie kennen«, erwiderte Lynley. Er ließ Denton beim Abdecken zurück und ging hinaus, um nach New Scotland Yard zu fahren.
Havers rief ihn an, als er sich gerade mühsam zwischen morgendlichen Pendlern, mit Gepäck beladenen Reisenden und den zweistöckigen Reisebussen, die sämtlich Straßen rund um den Bahnhof Victoria blockierten, hindurchschlängelte.
Sie hätten mit hoher Wahrscheinlichkeit das Versteck gefunden, in dem Charlotte Bowen gefangengehalten worden war, berichtete sie. Sie bemühte sich, lässig zu sprechen, aber es gelang ihr nicht ganz. In ihrer Stimme schwang der Stolz auf ihre Leistung mit. Es sei eine Windmühle nicht weit von einem Dorf namens Great Bedwyn und, was bedeutsamer sei, nur einen guten Kilometer vom Kennet & Avon-Kanal entfernt. Zwar nicht von der Stelle, an der das tote Kind ins Wasser geworfen worden war. Aber mit einem Boot, das er vorher extra zu diesem Zweck gemietet haben könnte, wäre es dem Mörder gewiß ein leichtes gewesen, die Leiche unter Deck zu verstauen, hochzufrieden bis Allington zu schippern, das Kind ins Schilf zu werfen und sich aus dem Staub zu machen. Oder aber er könnte die Leiche mit dem Auto hingefahren haben. So groß sei die Entfernung nicht, und Robin habe gesagt - »Robin?« fragte Lynley. Er bremste scharf, um einen jungen Mann mit Irokesenhaarschnitt, der einen Ring in der linken
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