08 - Im Angesicht des Feindes
Moment gar nicht im Haus und würde voraussichtlich auch so bald nicht zurückkehren. Aber wenn Sergeant Havers einen Termin vereinbaren wolle, gegen Ende der Woche vielleicht ... Die Sekretärin schlug den Terminkalender auf. Mit gezücktem Bleistift wartete sie auf Barbaras Reaktion.
Barbara wußte nicht, wie sie reagieren sollte, da sie nicht recht ahnte, was sie außer dem vagen und beunruhigenden Gefühl, daß die Schule irgendwie mit dem Fall Bowen zu tun hatte, überhaupt hierhergeführt hatte. Zum erstenmal seit ihrer Ankunft in Wiltshire wünschte sie, Inspector Lynley wäre an ihrer Seite. Er schien niemals unter vagen und beunruhigenden Gefühlen zu leiden - außer in bezug auf Helen Clyde natürlich, da schien er nichts anderes als vage und beunruhigende Gefühle zu haben. Im Angesicht der Sekretärin des Schulrektors gestand sich Barbara ein, daß ihr ein Palaver mit dem Inspector vor diesem Besuch gutgetan hätte. Dann wäre sie nicht in dieses Büro marschiert, ohne einen blassen Schimmer davon zu haben, was sie eigentlich wollte.
Um wenigstens ein Gespräch in Gang zu bringen, versuchte sie es mit: »Ich leite die Ermittlungen über den Mord an Charlotte Bowen, das kleine Mädchen, das am Sonntag im Kanal gefunden wurde« und sah erfreut, daß sie auf Anhieb die ungeteilte Aufmerksamkeit der Sekretärin gewonnen hatte. Der Stift senkte sich auf den Terminkalender, und die Frau, die - wie kurz und bündig auf ihrem Namensschild stand - Portly hieß und mindestens siebzig und klapperdürr war, sah sie erwartungsvoll an.
»Dieses Mädchen war die Tochter eines Ihrer ehemaligen Schüler«, fuhr Barbara fort. »Eines gewissen Dennis Luxford.«
»Dennis?« rief Portly, allen Nachdruck auf die erste Silbe des Wortes legend. Barbara verstand das als einen Hinweis darauf, daß ihr der Name bekannt war.
»Er muß vor ungefähr dreißig Jahren hier gewesen sein«, fügte sie erläuternd hinzu.
»Vor dreißig Jahren - Unsinn«, sagte Portly. »Er war erst im letzten Monat hier.«
Als St. James Schritte auf der Treppe hörte, hob er den Blick von den Tatortfotos, die er gerade studierte, um vor einem Auftritt im Old Bailey sein Gedächtnis aufzufrischen. Er hörte Helens Stimme. Sie sagte zu Cotter: »Ja, einen Kaffee könnte ich wirklich gebrauchen. Wie nett von Ihnen, daß Sie gefragt haben. Ich habe das Frühstück glatt verschlafen. Da ist natürlich alles willkommen, was mich bis zum Mittagessen wenigstens halbwegs über die Runden bringt ...« Cotter rief von unten, daß der Kaffee sofort kommen würde.
Als Helen ins Labor trat, warf St. James einen neugierigen Blick auf die Wanduhr. »Ich weiß«, sagte sie. »Du hast mich viel früher erwartet. Entschuldige. Es tut mir leid.«
»Schlechte Nacht?«
»Überhaupt keine Nacht. Ich konnte nicht schlafen und habe den Wecker nicht gestellt. Ich dachte, ich würde ihn sowieso nicht brauchen, weil ich die ganze Zeit nur an die Decke gestarrt habe.« Sie warf ihre Tasche auf den Arbeitstisch und zog ihre Schuhe aus. Auf Strümpfen ging sie zu ihm hinüber. »Aber ganz stimmt das nicht. Ursprünglich hatte ich den Wecker gestellt. Aber als ich um drei Uhr morgens immer noch wach lag, habe ich ihn einfach abgestellt. Aus psychologischen Gründen. Woran arbeiten wir?«
»Fall Pancord.«
»Ach, dieser gräßliche Kerl, der seine Großmutter umgebracht hat?«
»Angeblich, Helen. Wir stehen auf der Seite der Verteidigung.«
»Natürlich. Dieser arme, unterprivilegierte, vaterlose Junge, der fälschlich beschuldigt wird, eine wehrlose Achtzigjährige mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen zu haben?«
»Richtig. Der Fall Pancord.« St. James nahm sein Vergrößerungsglas und beugte sich wieder über die Fotografien. »Was für psychologische Gründe?« fragte er.
»Hm?« Helen hatte begonnen, einen Stapel Berichte und Briefe zu sortieren, um zunächst die einen zu ordnen und dann die anderen zu beantworten. »Ach, warum ich den Wecker abgestellt habe, meinst du? Damit wollte ich die Spannung loswerden, die sich immer einstellt, wenn man weiß, daß man spätestens dann und dann einschlafen muß, um noch ausreichend Schlaf zu bekommen, ehe der Wecker läutet. Da man aber genau deswegen nicht schlafen kann, weil man angespannt ist, hab' ich mir gedacht, wenn ich wenigstens eine Ursache beseitige, könnte ich einschlafen. Und ich bin ja auch eingeschlafen. Nur bin ich dann nicht rechtzeitig aufgewacht.«
»Die Methode ist also von zweifelhaftem
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