08 - Im Angesicht des Feindes
Wert.«
»Liebster Simon, die Methode hat überhaupt keinen Wert. Ich bin trotzdem erst gegen fünf eingeschlafen. Da war es natürlich von meinem Körper zuviel verlangt, daß er um halb acht von selbst aufwacht.«
St. James legte das Vergrößerungsglas neben den Bericht einer DNA-Untersuchung von Sperma, das am Tatort gefunden worden war. Es sah nicht gut aus für Mr. Pancord. »Und was für Ursachen gibt es noch?« fragte er.
»Wie?« Helen sah von der Korrespondenz auf. Ihr weiches Haar schwang bei der Kopfbewegung nach rückwärts, und St. James konnte sehen, wie verquollen die Haut unter ihren Augen wirkte.
Er sagte: »Du wolltest doch wenigstens eine Spannungsursache beseitigen, als du den Wecker abgestellt hast. Aber es gibt noch andere, hm?«
»Ach, nur die üblichen psychischen Wehwehchen und Neuröschen.« Sie warf die Bemerkung ganz locker und unbekümmert hin, aber er kannte sie nicht umsonst seit fünfzehn Jahren.
»Tommy war gestern abend hier, Helen«, sagte er.
»Ach ja.« Es war nur ein Zur-Kenntnis-Nehmen, keine Frage. Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf eine auf Büttenpapier gedruckte Einladung. Sie las sie durch, ehe sie aufblickte und sagte: »Ein Symposion in Prag, Simon. Nimmst du an? Es ist erst im Dezember, aber wenn du einen Vortrag vorbereiten willst, ist bis dahin nicht mehr allzuviel Zeit.«
»Tommy hat sich entschuldigt«, fuhr St. James fort, als hätte sie nicht versucht, das Thema zu wechseln. »Bei mir. Er wollte auch mit Deborah sprechen, aber ich hielt es für besser, es ihr auszurichten.«
»Wo ist Deborah eigentlich?«
»An der St.-Botolph's-Kirche. Beim Fotografieren.« Er ließ Helen nicht aus den Augen, als diese zum Computer ging, ihn einschaltete und eine Datei anwählte. »Der kleine Luxford ist entführt worden, Helen«, sagte er. »Die Forderung ist die gleiche wie bei Charlotte Bowen. Damit muß Tommy sich nun auch noch herumschlagen. Er ist im Augenblick sehr stark gefordert. Ich weiß zwar, daß das nicht unbedingt erklären kann -«
»Wie kannst du ihm nur immer - immer - so schnell wieder verzeihen?« fragte Helen erregt. »Hat Tommy denn niemals etwas getan, bei dem du das Gefühl hattest, es sei an der Zeit, einen Schlußstrich unter eure Freundschaft zu ziehen?« Sie hielt die Hände im Schoß, und ihre Worte waren weniger an ihn als an den Computerbildschirm gerichtet.
St. James dachte über ihre Frage nach. Sie war durchaus vernünftig im Licht der bewegten Geschichte seiner Freundschaft mit Lynley. Ein katastrophaler Autounfall und eine frühere Beziehung Lynleys zu Deborah belasteten die Freundschaft. Aber St. James hatte seinen eigenen Anteil an diesen beiden Geschehnissen längst akzeptiert. Glücklich war er nicht darüber, aber er wußte, daß ständiges Wühlen in der Vergangenheit letztlich lähmend und unproduktiv war. Was geschehen war, war geschehen. Und damit basta.
Er sagte:»Er hat einen ungeheuer schweren Beruf, Helen. Diese Art Arbeit strapaziert einen seelisch viel stärker, als wir uns überhaupt vorstellen können. Wenn man ständig mit den dunklen und schmutzigen Seiten des Lebens zu tun hat, bleiben einem nur zwei Möglichkeiten: Entweder man stellt alle Gefühle ab - ach, nur wieder mal ein kleiner Mord, der geklärt werden muß -, oder man wird zornig. Gefühllosigkeit hat den Vorteil, daß man mit ihr weiter funktionieren kann. Dem Zorn darf man keinen Raum geben. Man verdrängt ihn also so lange wie möglich. Aber früher oder später passiert etwas, und man explodiert. Man sagt Dinge, die man nicht sagen wollte. Man tut Dinge, die man sonst nicht tun würde.«
Sie senkte den Kopf und strich sich mit dem Daumen der einen Hand über die Knöchel der anderen. »Ja«, sagte sie, »das ist es. Dieser Zorn. Sein Zorn. Er ist immer da, gleich unter der Oberfläche. Er ist in allem, was er tut. Seit Jahren schon.«
»Der Zorn kommt von seiner Arbeit. Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Das weiß ich. Aber ich weiß nicht, ob ich es auf die Dauer ertragen kann, damit zu leben. Immer wird er dasein - Tommys Zorn -, wie ein unerwarteter Gast, wenn man selbst nichts zu essen hat.«
»Liebst du ihn, Helen?«
Sie lachte kurz und unglücklich. »Ob ich ihn liebe und ob ich fähig bin, auf Dauer mit ihm zusammenzuleben, sind zwei völlig getrennte Fragen. Die erste kann ich mit Sicherheit bejahen, aber die zweite nicht. Und jedesmal, wenn ich glaube, alle meine Zweifel hätten sich gelegt, geschieht irgendwas, und sie fangen
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