08 - Im Angesicht des Feindes
Barbara. Alles begann sich ineinanderzufügen. Sie wußte, daß Luxford kürzlich in der Gegend gewesen war. Sie wußte, daß er in seiner Jugend zur Windmühle gewandert war. Jetzt brauchte sie nur noch Charlottes Schuluniform in seine Hände zu legen. Und sie hatte schon eine recht gute Vorstellung davon, wie sie das anstellen würde.
Cross Keys Close, dachte Lynley bei sich, sah aus wie ein düsterer Schlupfwinkel von Bill Sikes. Die engen Gassen, die sich zwischen den dichtstehenden Häusern hinter der Marylebone Lane hindurchschlängelten, waren menschenleer und praktisch unberührt vom Sonnenlicht dieses Tages. Als Lynley und Nkata, nachdem sie den Bentley am Bulstrode Place abgestellt hatten, in den gottverlassenen Bezirk eindrangen, fragte sich Lynley, was Eve Bowen sich dabei gedacht haben konnte, ihre Tochter mutterseelenallein in diesem Viertel herumspazieren zu lassen. Es hätte ihn interessiert, ob sie selbst überhaupt je hiergewesen war.
»Das ist vielleicht eine gruselige Ecke«, bemerkte Nkata, Lynleys Gedanken in Worte fassend. »Was hat ein kleines Ding wie Charlotte Bowen in so einer Gegend verloren?«
»Ja, das ist die große Frage«, meinte Lynley.
»Mensch, im Winter muß die doch im Stockdunkeln hier rumgeirrt sein.« Nkata war empört. »Das verleitet ja förmlich ...« Sein Schritt wurde schleppend, und schließlich blieb er ganz stehen. Er sah Lynley an, der drei Schritte vor ihm haltgemacht hatte. »Das verleitet ja förmlich zum Verbrechen«, schloß er nachdenklich und fügte lebhafter hinzu: »Glauben Sie, die Bowen hat über Chambers Bescheid gewußt, Inspector? Sie sitzt im Innenministerium direkt an der Quelle. Sie könnte den Mann auf eigene Faust überprüft und die gleichen Informationen über ihn bekommen haben wie wir. Sie könnte die Kleine zu ihm in die Musikstunde geschickt und dann die ganze Sache ausgeheckt haben. Sie hätte genau gewußt, daß wir früher oder später auf ihn stoßen würden - was wir ja gerade getan haben - und könnte damit gerechnet haben, daß wir uns dann voll auf ihn konzentrieren und sie darüber ganz vergessen.«
»Die Theorie ist nicht schlecht«, sagte Lynley, »aber wir sollten besser keine voreiligen Schlüsse ziehen, Winston. Sprechen wir erst einmal mit Chambers. St. James meint, er habe am Mittwoch abend etwas verheimlicht, und St. James hat für solche Dinge im allgemeinen ein gutes Gespür. Also, schauen wir mal, was es war.«
Sie hatten Damien Chambers nicht auf ihren Besuch vorbereitet. Aber er war zu Hause. Sie konnten die Klänge eines elektrischen Keyboards hören, die aus seinem kleinen Häuschen auf die Straße hinausschallten. Die Musik brach abrupt ab, als Lynley den Messingklopfer in Form eines Violinschlüssels gegen die Tür fallen ließ.
Ein schlaffer Vorhang am Fenster bewegte sich flüchtig, als von drinnen jemand einen Blick auf die Besucher warf. Einen Moment später wurde die Tür vorsichtig einen Spalt aufgezogen, und das blasse Gesicht eines jungen Mannes wurde sichtbar, schmal, von dünnem, brustlangem Haar umrahmt.
Lynley zückte seinen Dienstausweis. »Mr. Chambers?«
Chambers schien sich zu bemühen, keinen Blick auf den Ausweis zu werfen. »Ja.«
»Inspector Thomas Lynley, Kriminalpolizei, New Scotland Yard.« Lynley stellte Nkata vor. »Wir würden Sie gerne einen Moment sprechen.«
Obwohl Chambers über den Besuch wenig erfreut schien, trat er einen Schritt zurück und zog die Haustür ganz auf. »Ich sitze an der Arbeit.«
Im Zimmer lief ein Kassettenrecorder. Die wohltemperierte und unverkennbar geschulte Stimme eines Schauspielers war zu hören. »Die ganze Nacht hindurch tobte der Sturm ohne Unterlaß. Und während sie in ihrem Bett lag und daran dachte, was sie einander einmal bedeutet hatten, wurde ihr klar, daß sie ihn niemals würde vergessen -«
Chambers schaltete das Gerät aus. »Romankassetten«, sagte er erklärend. »Ich mache die Musikeinlagen zwischen den Szenen.« Er rieb sich die Hände an den Hosenbeinen seiner Jeans, als wollte er den Schweiß von ihnen abwischen. Nachdem er zwei Notenständer weggeschoben hatte und zwei Stühle von Notenblättern frei gemacht hatte, sagte er: »Nehmen Sie Platz, wenn Sie wollen.« Dann ging er durch eine Verbindungstür in die Küche nebenan und drehte das Wasser auf. Mit einem Glas Wasser, in dem eine Scheibe Zitrone schwamm, kehrte er zurück. Er stellte das Glas auf den Rand seines Keyboards und setzte sich an das Instrument, als wollte er
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