08 - Im Angesicht des Feindes
Uhr. Sie horchte und hörte nichts. Kein Tick, kein Tack, gar nichts. Kaputt, dachte sie. Genau wie die alte Uhr auf Großmamas Kaminsims. Doch das hier war eine Riesenuhr. Vielleicht eine Kirchenuhr. Eine Turmuhr, die stolz in der Mitte eines Marktplatzes stand. Oder eine Uhr in einem Schloß.
Der Gedanke an ein Schloß ließ sie abschweifen. Zu Kerkern und Verliesen. Zu finsteren Räumen mit flackernden Feuern, in denen Ketten und Fußeisen und Spieße und Zahnräder waren. Zu schreienden Gefangenen und Folterknechten mit Ledermasken.
Folter, dachte Lottie. Der dicke Mast, den sie umschlungen hielt, das riesige Rad über ihr bekamen ein neues Gesicht. Sie zog ihren Arm weg und wich zurück. Ihre Beine waren wie Gummi. Vielleicht wäre es besser gewesen, nichts zu wissen.
Plötzlich schoß ein kalter Luftzug von unten herauf und wirbelte um ihre Beine. Dann dröhnte ein lauter Schlag, der von den Mauern des Raumes unter ihr zurückgeworfen wurde. Stille folgte, dann ein metallisches Scharren.
Lottie sah, daß durch das Rechteck im Boden, durch das sie geklettert war, Licht heraufleuchtete. Es raschelte. Jemand in dicken Kleidern bewegte sich unten. Dann sagte ein Mann:
»Wo, zum ...«, und die Holzkisten auf dem Boden wurden krachend herumgeschoben.
Er glaubte, sie wäre geflohen! Das bedeutete, daß es doch einen Fluchtweg gab. Wenn sie verhindern konnte, daß er merkte, daß sie die Treppe und die Falltür gefunden hatte, konnte sie, sobald er sich nach ihr auf die Suche machte, diesen Fluchtweg finden und wirklich fliehen.
Sie huschte lautlos zur Falltür und senkte leise die Klappe. Sie setzte sich darauf und hoffte, ihr Gewicht würde sie unten halten, wenn er versuchen sollte, sie aufzudrücken.
Durch die Ritzen im Holz konnte sie erkennen, daß das Licht heller wurde. Sie konnte seinen schweren Tritt auf der Treppe hören. Sie hielt den Atem an. Die Falltür hob sich einen Fingerbreit, senkte sich, hob sich wieder einen Spalt. »Scheiße«, sagte er. »Scheiße!« Die Tür senkte sich wieder. Charlotte hörte ihn die Treppe hinuntersteigen.
Das Licht verschwand. Die Tür unten wurde geöffnet und zugeschlagen. Dann war alles still.
Lottie hätte am liebsten in die Hände geklatscht. Sie hätte am liebsten laut geschrien. Sie vergaß das pelzige Gefühl im Mund und hob die Falltür an. Breta hätte es nicht besser machen können. Breta hätte ihn nicht so gut zum Narren halten können. Breta hätte ihm wahrscheinlich den Eimer ins Gesicht geschleudert und wäre um ihr Leben gelaufen, aber Breta hätte niemals daran gedacht, ihn zu überlisten, ihn glauben zu machen, sie sei schon auf der Flucht.
Es war dunkel unten, aber die Dunkelheit machte Lottie jetzt keine Angst mehr, weil sie wußte, daß es bald vorbei sein würde. Sie tastete sich die Treppe hinunter und schlich zu den Kisten. Dort war natürlich der Weg ins Freie. Die Kisten verbargen eine Öffnung, die genau Lotties Größe hatte.
Sie drückte mit der Schulter gegen die erste von ihnen. Ha, Breta würde Augen machen, wenn sie von diesem Abenteuer hörte. Und Cito würde staunen, daß seine Charlie so tapfer war. Und Mama würde stolz sein, wenn sie hörte, daß ihre Tochter - Plötzlich ein metallisches Klirren.
Das Licht traf sie wie ein Faustschlag.
Lottie fuhr herum, die Hände auf den Mund gedrückt.
»Dein Daddy wird dich hier rausholen, Lottie«, sagte er.
»Allein schaffst du das nicht.«
Sie starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Er war ganz schwarz. Sie konnte ihn nicht sehen, nur einen Schatten hinter dem Licht. Sie senkte die Hände.
»Doch, ich schaff es«, sagte sie. »Sie werden schon sehen. Und wenn ich's geschafft hab', dann werden Sie von meiner Mama was erleben. Sie ist bei der Regierung. Sie steckt Leute ins Gefängnis. Sie sperrt sie ein und wirft den Schlüssel weg. So geht's Ihnen dann auch. Warten Sie nur ab.«
»Nein, Lottie, ich glaub' nicht, daß es so kommt. Jedenfalls nicht, wenn dein Dad endlich die Wahrheit sagt. Dein Dad ist ein echter Knüller, aber bis jetzt weiß das kein Mensch. Jetzt kann er der ganzen Welt zeigen, was für ein toller Typ er ist. Er kann die wahre Geschichte erzählen und seine kleine Maus retten.«
»Was für eine Geschichte?« fragte Charlotte. »Cito erzählt nie Geschichten. Die Geschichten erzählt mir immer Mrs. Maguire. Sie denkt sie sich aus.«
»Na, dann hilfst du deinem Daddy eben, sich eine auszudenken. Komm her, Lottie.«
»Nein«, sagte Lottie. »Ich hab'
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