08 - Im Angesicht des Feindes
richtiges Solo ist es eigentlich nicht, weil ja der ganze Chor mitsingt, aber an einer Stelle muß ich fast eine Minute lang allein singen. Das ist doch ein Solo, oder?«
Luxford hätte am liebsten gefragt, ob sein Sohn zur Schulfeier denn nicht etwas anderes beitragen könnte, ob er sich nicht an einem wissenschaftlichen Projekt beteiligen oder eine zündende Rede halten könnte, die einen Schüleraufstand auslösen würde. Aber er verkniff sich die Frage, ließ den Wagen an und steuerte ihn auf die Straße hinaus.
»Ich freu' mich darauf, dich zu hören«, sagte er und flunkerte: »Ich wollte in Baverstock immer in den Chor. Sie haben einen sehr guten Chor dort, aber ich konnte keine Melodie richtig singen. Wenn ich gesungen habe, hat das immer geklungen, als klapperten Steine in einem Blecheimer.«
»Wirklich?« Mit einer Hellhörigkeit, die er ebenfalls von seiner Mutter geerbt hatte, griff Leo die Lüge sofort auf.
»Komisch! Ich hätte nie gedacht, daß du mal im Chor singen wolltest, Dad.«
»Warum nicht?« Luxford warf seinem Sohn einen Blick zu.
Leo drückte vorsichtig die Fingerspitzen an seine Lippen und prüfte neugierig den Zustand seines Mundes.
»Nach dem Zahnarzt könnte einem wahrscheinlich einer die Lippen zu Matsch schlagen, und man würde es nicht spüren«, sagte der Junge nachdenklich. »Man könnte sie wahrscheinlich sogar wegbeißen, ohne daß man es merkt. Toll eigentlich, nicht?« Und dann, wieder wie bei seiner Mutter, der plötzliche Themawechsel, der den anderen überraschte. »Ich hätte gedacht, du würdest es für Weiberkram halten, im Chor zu singen. Hab' ich recht, Dad?«
Luxford war nicht bereit, sich von dem Thema, das ihm am Herzen lag, ablenken zu lassen. Und schon gar nicht wollte er sich von seinem Sohn analysieren lassen. Das tat Fiona schon oft genug. »Hab' ich dir eigentlich erzählt, daß es in Baverstock einen Kanuklub gibt? Das gab's damals, als ich dort war, noch nicht. Sie üben im Swimmingpool - es sind Ein-Mann-Kanus -, und einmal im Jahr machen sie einen Ausflug an die Loire.«
War da nicht ein Funke von Interesse in Leos Blick?
Ermutigt fuhr Luxford fort: »Sie bauen ihre Kanus selbst. Und in den Osterferien veranstalten sie immer ein Abenteuerlager. Eine Woche lang. Da lernen die Jungen klettern, fallschirmspringen, schießen, Erste Hilfe und dergleichen, du weißt schon.«
Leo senkte den Kopf. Der Sicherheitsgurt hatte seinen Pullover hochgeschoben bis über die Schließe seines Gürtels. An der fingerte er jetzt herum.
»Es wird dir bestimmt noch besser gefallen, als du erwartest«, sagte Luxford, ganz als rechnete er mit Leos vollem Einverständnis. Er bog zum Highgate Hill ab und hielt auf die Hauptstraße zu. »Wo wollen wir essen?«
Leo zuckte die Achseln. Luxford sah aus dem Augenwinkel, daß er auf seiner Unterlippe kaute. »Laß das, Leo«, sagte er.
»Jedenfalls solange deine Lippe noch taub ist.« Und Leo schien tiefer in den Sitz zu sinken.
Da der Junge keinen Vorschlag machte, steuerte Luxford den Porsche in die nächste freie Parklücke. Sie war am Pond Square, in der Nähe eines schick aussehenden Cafes. Er führte Leo hinein, ohne darauf zu achten, daß der Junge, der eben noch so vergnügt gewesen war, mit hängendem Kopf neben ihm hertrottete. Er schob ihn zu einem Tisch, drückte ihm eine glänzende cremefarbene Speisekarte in die Hand und las ihm von der Tafel die Tagesspezialitäten vor.
»Und was möchtest du?« fragte er.
Wieder zuckte Leo die Achseln. Er legte die Speisekarte nieder, stützte sein Kinn in seine offene Hand und klopfte mit dem Absatz seines Schuhs gegen das Stuhlbein. Mit der anderen Hand drehte er die Vase in der Mitte des Tischs und begann die weißen Blumen und das Grün darin ansehnlicher zu ordnen. Er schien das völlig unbewußt zu tun, wie etwas, was ihm einfach im Blut lag. Seinen Vater reizte es so, daß er die Geduld verlor.
»Leo!« Keine Spur von väterlichem Wohlwollen war mehr in Luxfords Stimme.
Leo zog hastig seine Hand von der Vase. Er ergriff die Speisekarte und tat so, als studierte er sie aufmerksam. »Ich hab' nur gerade überlegt«, sagte er leise und zog das Kinn ein, um anzudeuten, daß diese Überlegungen ganz persönlicher Natur waren.
»Was hast du überlegt?«
»Ach, nichts.« Er begann wieder mit dem Fuß ans Stuhlbein zu schlagen.
»Es interessiert mich aber. Was war's?«
Leo wies mit dem Kopf auf die Blumen. »Ich hab' überlegt, warum Mamas Lunaria kleinere Blüten hat
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