08 - Old Surehand II
Schatz zu zeigen. Er schüttelte den Kopf dazu und meinte ganz verwundert:
„Das soll man lesen können?“
„Natürlich!“
„Nun, so lies du es. Schon wenn es sich um unsere gewöhnliche Schrift handelt, will ich mich lieber mit zwanzig Indsmen als mit drei Buchstaben herumschlagen. Ich bin niemals ein Held im Lesen gewesen; ich schreibe meine Briefe dem Adressaten gleich hier mit der Doppelbüchse in den Leib; das ist das Kürzeste. Die Feder zerbricht mir zwischen den Fingern, und die Tinte schmeckt zu schlecht. Nun erst diese Figuren zu entziffern, das ist ja fürchterlich. Man kann sie hier in der dunkeln Hütte, die nur zwei kleine Gucklöcher an Stelle der Fenster hat, ja gar nicht einmal erkennen.“
„So komm mit hinaus vor die Tür!“
„Na, mitgehen will ich wohl; das Lesen aber magst du allein besorgen.“
Wir gingen hinaus. Die Frau blieb zurück. Sie hatte auf dem Herd ein kleines Feuer angezündet, um einige Stückchen unseres Fleisches zu braten.
Ich hatte die Augen natürlich sofort auf den Figuren; Will Salters aber hielt die seinigen nach dem Himmel gerichtet. Er brummte bedenklich:
„Hm! Eigentümliche Wolke! Habe noch niemals so etwas gesehen. Was sagst du dazu?“
Dadurch aufmerksam gemacht, blickte ich empor. Das Wölkchen war nicht viel größer geworden, hatte aber ein ganz anderes Aussehen bekommen. Vorher bläulich grau, hatte es jetzt eine hellrote, durchsichtige Färbung, und es war, als ob von ihm aus Millionen und aber Millionen spinnenfadendünne, mattgoldene Fäden nach der ganzen Ausdehnung des Gesichtskreises hinuntergingen. Diese kaum sichtbaren Fäden zuckten nicht; sie waren vollständig unbeweglich, wie fest angespannt.
„Nun?“ fragte Will.
„Ich habe auch nie etwas Ähnliches gesehen.“
„Sollte dieser junge Mensch, der Indsman, recht behalten mit seinem Wirbelwind, uns alten, erfahrenen Savannenleuten gegenüber?“
„Bedenklich sieht es aus. Der Apache sprach gar von einer Windhose. Das wäre noch schlimmer.“
„Es mag sein, was es wolle, wir müssen es aber abwarten. Ich hoffe, du kannst dich in deiner Indianerschrift besser zurechtfinden als da oben in dem unbegreiflichen Fadengewirr. Wie steht es?“
„Hm! Wollen sehen! Da vorn sehe ich eine Sonne gemalt mit nur aufwärtsgehenden Strahlen, also wohl die aufgehende Sonne. Dann kommen vier Reiter. Sie haben Hüte auf, sind also wahrscheinlich Weiße. Der vorderste hat etwas am Sattel hängen; kleine Säcke sollen es wohl sein. Hinter diesen vieren kommen zwei andere. Sie haben Federn auf den unbedeckten Köpfen, dürften also wahrscheinlich Indianerhäuptlinge vorstellen.“
„Na, das ist ja alles sehr einfach. Nennst du das etwa lesen?“
„Es ist der Anfang dazu. Man muß erst die Buchstaben kennenlernen, ehe man sie zu Wörtern zusammenzusetzen vermag. Es befinden sich nun noch einige kleinere Figuren hier, welche über den größeren angebracht sind. Über dem einen Indianer sehe ich einen Büffel, welcher das Maul öffnet, aus dem einige kleine Striche hervorgehen. Aus dem Maul kann nur die Stimme hervorgehen; es ist also wohl ein brüllender Stier gemeint. Über dem Kopf des anderen Indsman ist eine Tabakspfeife, aus deren Kopf ähnliche Striche hervorgehen; das soll wohl Rauch bedeuten. Die Pfeife brennt also.“
„Du, ich fange an lesen zu können!“ sagte Will. „Da fällt mir ein, daß es zwei Apachenhäuptlinge gab, zwei Brüder; der eine war der ‚Brüllende Büffel‘ und ist seit langem tot; der andere hieß die ‚Brennende Pfeife‘, weil er von friedlicher Gesinnung war und gern mit jedermann die Friedenspfeife rauchte. Er soll noch leben.“
„So sind vielleicht gar diese beiden gemeint! Wollen sehen! Über dem zweiten Weißen ist ein Auge gemalt mit einem hindurchgehenden Strich. Entweder hat er nur ein Auge, oder er ist auf dem einen blind, oder das Auge ist krank. Ah, das wäre ja der Name, den du vorhin nanntest: ‚Böses Auge‘! Das soll wohl heißen: boshaftes Auge. Und über dem dritten Weißen ist ein Beutel mit einer danach greifenden Hand. Sollte das Diebstahl bedeuten?“
„Ja, ja, gewiß!“ sagte Salters schnell, „die ‚Stehlende Hand‘. Ich hab's, ich hab's! Jetzt weiß ich, wo ich diesen Rollins gesehen habe! Nämlich droben in den schwarzen Bergen; er hieß Haller, war ein Pferde- und Biberfallendieb und wurde die ‚Stehlende Hand‘ genannt.“
„Du wirst dich irren!“
„Nein, nein! Die ‚Stehlende Hand‘ und das ‚Böse Auge‘
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