0802 - Der Wächter
sich nicht anders an als sonst. Das Gestein war kühl geworden, die Wärme des Tages hatte es längst verloren, aber der Brunneninhalt, der bis zum Rand reichte, hatte sich verändert.
Zwar war der Brunnen auch weiterhin gefüllt, nur sah der Sand glasig aus als wäre er geschmolzen und er wurde zudem von einem kompakt wirkenden Lichtstrahl erwischt, der in einem schrägen Winkel von oben herabfiel und haargenau die runde Öffnung des alten Brunnens erwischte.
Das also war Salomons Hilfe…
Ich drehte den Kopf und blickte in die Höhe.
Ja, das Gesicht zeigte sich noch immer wie ein hastiger und mit dünnen Pinselstrichen gezeichneter Umriss. Doch der Lichtstrahl fiel vom Gesicht aus wie ein schwaches seidenes Band in die Tiefe, um den Brunnen zu erreichen.
Er bereitete für mich den Weg vor.
Ich blickte hinein.
Glas? War der Sand durch das Licht zu Glas geschmolzen? So genau hätte ich da nicht zustimmen können, aber mein Blick glitt in die hell gewordene Röhre hinein, bis hin zum Grund, wo sich schwach das Ende abzeichnete.
Je länger ich schaute, umso mehr war ich irritiert, denn ich hatte den Eindruck, als wäre das Licht nicht nur von einer Seite gekommen, sondern auch von der entgegengesetzten.
Von unten also…
Tat sich dort etwas?
Ich stieß den Atem durch die Nase aus. Im Moment war mir schwindlig. Hinter meiner Stirn hämmerte es. Ein hartes Tuckern, als wäre gerade jetzt ein Kopfschmerz erschienen.
Das Kreuz hatte sich nicht verändert. Ich hob den rechten Arm an, um meinen Talisman über den Brunnenrand hinweg in das geschmolzene Glas hineinzudrücken.
Ich bemerkte kaum Widerstand, dafür aber spürte ich einen unerklärlichen Sog, der mich nach vorn holte, und mir war sofort klar, was dieser Sog bezweckte.
Ich sollte in den Brunnen hineingeholt werden, denn dort unten irgendwo lag das Ziel.
Welches Ziel? Die geheimnisvolle Wand, der unsere Suche letztendlich hier galt?
Etwas anderes konnte es nicht sein. Ich stand am Brunnen, den Kopf nach vorn gebeugt und schaute hinein. Vom langen Starren taten mir die Augen etwas weh.
Das Herz schlug auch schneller, und die kalte Haut auf meinem Rücken wollte nicht verschwinden.
Der Drang nach vorn ließ sich nicht aufhalten. Es war verrückt, denn wenn ich es tatsächlich riskierte und über den Brunnenrand hinwegstieg, dann konnte ich bis zum Grund fallen und dort mit gebrochenen Knochen liegen bleiben oder tot sein.
Dennoch dachte ich auch an die andere Seite. Hier hatte sich, allem zum Trotz etwas aufgebaut, dem ich Vertrauen schenken konnte. Eine weißmagische Zone, die mir auf ihre Art und Weise klar machte, was für mich zu tun war.
Ihr einfach folgen, dieser anderen Welt vertrauen, auf die Kraft des König Salomons hoffend.
Noch einmal blickte ich zurück.
Das Gesicht zeigte sich nach wie vor am Himmel. In den Augen las ich so etwas wie einen gütigen Ausdruck und gleichzeitig die Aufforderung, es zu versuchen.
Ich stieg auf den Rand.
Eigentlich bewegten sich meine Glieder von allein, sodass ich mir vor kam wie eine ferngesteuerte Puppe.
Gleichzeitig drängte es mich selbst auch in die Tiefe. Dieses Gefühl hatte nichts mit der Erscheinung am Himmel zu tun, es war tief in mir selbst geboren und so intensiv, dass ich kaum mitbekam, wie ich mich auf den Brunnenrand setzte, wobei meine Beine in die Tiefe hingen. Eigentlich hätte ich jetzt einen bestimmten Widerstand spüren müssen, der aber trat nicht auf, denn die Masse innerhalb der Brunnenmauern war nicht fest, sondern… ja, was war sie eigentlich? Sie war nicht vorhanden, der Brunnen hatte seine Füllung völlig aufgegeben. Ich hatte freie Bahn. Zwar steckte die Magie nach wie vor in ihm, nur anders als früher. Sie hatte sich verändert und sich dabei auf meine Seite gestellt.
Die Tiefe lockte.
Das Geheimnis des Brunnens lockte.
Widerstand?
Er bröckelte allmählich. Mit den Handballen stützte ich mich zu beiden Seiten des Körpers auf dem Brunnenrand ab. Noch saß ich, aber auf der runden Kante rutschte ich Stück für Stück vor. Ich bewegte mich sehr langsam, weil ich mich einfach nicht traute, mit einem Sprung in die Tiefe zu gleiten.
Plötzlich verlor ich den Kontakt. Ich rutschte nach vorn, und aus meinem Mund löste sich trotz allem ein Schrei.
Jetzt gab es kein Zurück mehr, der alte, biblische Brunnen hatte mich an sich gerissen…
***
Es war wie beim Eintauchen in ein kaltes Wasser. Für einen Moment presste sich in meinem Innern alles zusammen. Das Herz
Weitere Kostenlose Bücher