0805 - Krallenhand
blicken. Sie konnte überall sein, ich rechnete sogar mit einem Angriff von der Wasserseite her.
Da tat sich nichts.
Das Meer rauschte heran, die Wellenzungen glitten auf unsere Füße zu, ohne sie erwischen zu können.
Nicht so bei Susy. Deren Füße wurden bereits von Meerwasser umspült, und sie traf auch keinerlei Anstalten, die Richtung zu wechseln. Es schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Im Gegenteil, es bereitete ihr sogar so großen Spaß, dass sie auf das Wasser zuging.
»Was tut sie denn da?«, rief Glenda.
»Das weiß ich auch nicht.«
»Willst du hin?«
»Und ob.«
Im nächsten Augenblick ließ ich Glenda stehen und eilte mit langen Schritten dem Kind hinterher. Ich hielt mich noch auf dem normalen Strand, denn nasse Füße konnte ich mir später holen.
Susy drehte sich nicht ein einziges Mal um. Sie ging weiter, als wäre nichts geschehen, und das kalte Wasser stieg an ihr hoch.
Ich kam mir vor wie jemand, der einen anderen retten wollte, obwohl dieser sich entschlossen hatte, in den Tod zu gehen. Es dauerte nicht lange, als auch meine Füße in das flache auslaufende Wasser hineinplatschten. Das Brausen der Wellen umgab mich, ich sah den kleinen Körper jetzt nicht mehr zu weit entfernt, aber Susy hatte sich auch jetzt nicht einmal umgedreht.
»Susy…!« Meine Stimme wehte über die Wellen und wurde von den Geräuschen verschluckt.
Das Kind reagierte nicht.
Ich lief noch schneller. Das Wasser war kalt. Längst war es in meine Schuhe gedrungen und hatte sie völlig durchnässt. Wenig später spritzte es bis gegen die Knie, und anstürmende Wellen erreichten bereits meine Oberschenkel.
Die Hose klebte mir an den Beinen. Das Wasser hatte sie dunkel gemacht, ich hörte hinter mir Glendas leisen Schrei, achtete darauf nicht, denn das Kind befand sich dicht vor mir.
Mit einem letzten Sprung, der aussah, als wollte ich mich in voller Kleidung in die Wellen stürzen, erreichte ich mein Ziel. Der rechte Arm sank nach unten, meine Hand fand die Schulter des Kindes und ich zerrte Susy herum.
Als ich sie losließ, taumelte sie und fiel in das Wasser.
Ich bückte mich, fasste nach ihr und sah sie auf dem Rücken liegen, umspült von den auslaufenden Wellen.
Obwohl sich dieses Bild nur sehr kurz meinen Augen bot, kann ich es nicht vergessen. Es prägte sich mir ein wie ein Foto, das ich sehr lange betrachtet hatte.
Susy lag im Sand, sie schien sich darin eingegraben zu haben.
Das Wasser floss wie ein dünner Film über sie hinweg, es verfremdete etwas den Ausdruck ihres Gesichtes. Vielleicht kam es mir deshalb wie eine glatte und gleichzeitig monströse Fratze vor, deren Mund zu einem breiten Lächeln verzogen war, dem es zudem nichts ausmachte, dass salziges Meerwasser hineinrann. Ich sah die bösen runden Augen wie bleiche Kugeln, die kleine Nase mit dem leichten Schwung nach oben, und das Haar war im nassen Sand unter dem Körper verschwunden.
Wie eine Tote im Wasser.
Daran glaubte ich nicht. Ich wollte sie rausziehen, hatte mich schon gebückt, als Susy reagierte. Sie warf die Arme hoch.
Einen Augenblick später hing sie mir an der Kehle!
***
Glücklich fühlte sich Glenda Perkins nicht, als John Sinclair ihr davongelaufen war. Kaum hatte er sich einige Schritte von ihr entfernt, überkam sie bereits die große Einsamkeit. Normalerweise wäre ihr das nicht passiert, es hing eben mit ihren Erlebnissen zusammen. Da reagierte jeder Mensch sensibler als normal.
Was wollte Susy?
Es sah so aus, als wäre sie ihre Existenz leid. So leid, dass sie einen Selbstmord vorzog. Das wiederum wollte ihr nicht in den Kopf. Susy war kein Mensch, sie war ein Geschöpf, sie konnte existieren, ohne atmen zu müssen, da machte es auch keinen Sinn, wenn sie in das Wasser lief. Ihr Verhalten deutete mehr auf eine Falle hin.
Glenda fror. Die Arme hatte sie um ihren Oberkörper geschlungen. Der Wind war kalt und böig. Er drang durch ihre Kleidung und biss sich in jede Pore fest.
Der Himmel nahm an Dunkelheit zu. Jetzt waren auch weit im Westen die letzten Flecken verschwunden. Düsternis überzog das Land, und ebenso düster fühlte sich Glenda.
Hoffnungslos war sie nicht, aber die Umgebung erinnerte sie immer mehr an ein Schattenreich, das sich lautlos in ihrem Umkreis aufgebaut hatte. Sie schaute nur selten zu Boden, und noch seltener blickte sie zurück. Hätte sie es getan, dann wäre ihr etwas aufgefallen.
Der Sand bewegte sich. Es sah aus, als würde eine Schlange dicht unter der Oberfläche
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