0810 - Stirb in einer anderen Welt
Fahr bis vor die Tür.«
»Aber nicht auch noch die Eingangstreppe hinauf?«
Er verzichtete auf eine Antwort. Diese Sache war ihm einfach zu blöde.
Kaum stand der Wagen, als er sich zu Duval beugte und auf die Huptaste drückte. Laut und anhaltend erklang der Signalton.
»Was soll das denn jetzt?«, fuhr ihn die Negativ-Nicole an.
»Anstelle der Türklingel«, sagte er, stieß die Tür auf und warf sich geduckt aus dem Auto. Mit zwei, drei Sprüngen war er in den Ziersträuchern neben der Eingangstreppe verschwunden.
Die verdammten Pflanzen stanken wie nasser Fuchs!
»Na klasse«, murmelte Zamorra.
Jetzt stieg auch Duval aus. Sie ließ sich etwas mehr Zeit.
Aus der Haustür stürmten drei Männer hervor. »Was soll das denn hier werden, wenn's fertig ist?«, fragte einer von ihnen, ein rothaariger, hoch gewachsener Möbelpackertyp, mit dem Zamorra sich lieber nicht auf eine körperliche Auseinandersetzung einlassen wollte.
Duval deutete auf die Sträucher. »Da - da ist er!«, schrie sie fast hysterisch.
»Wer?«, fragte der Rothaarige.
»Der andere«, keuchte Duval. »Der aus der anderen Welt! Der andere Zamorra!«
Die drei Männer sahen sich an. Synchron zogen sie ihre Schusswaffen aus den Schulterholstern. Der Rothaarige grinste.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte er. Er zielte auf die Sträucher und machte den Zeigefinger krumm.
»Waidmannsheil«, knurrte Zamorra und schoss, eine halbe Sekunde, bevor der Zeigefinger seines Gegners den Druckpunkt des Abzugs berührte.
Der Rothaarige schrie auf. Seine Pistole flog durch die Luft. Er selbst taumelte mit durchschossener Schulter zurück.
Im nächsten Moment war die Hölle los.
***
Im Château unserer Welt lehnte Nicole Duval am Fenster und sah hinaus. Sie sah eine im Schweinsgalopp dem Gebäude entgegenflitzende Katze, die von einem wutschnaubenden Jungdrachen verfolgt wurde.
Offenbar kamen die beiden bestens miteinander zurecht. Mal jagt der eine den anderen, mal der andere den einen. Es sah so aus, als würde Zamorra sich über kurz oder lang an den pelzigen Frühstückstischplünderer gewöhnen müssen.
»Wenn er es denn schafft, heil zurückzukommen«, flüsterte sie.
Das kurze Intermezzo draußen hatte sie nur sekundenlang ablenken und amüsieren können. Es half ihr aber bei ihrem Problem nicht weiter. Und das hieß: Wie konnte Zamorra verschwinden, und wie ging es jetzt weiter? Nach Plan doch wahrscheinlich nicht, denn dieses blitzartige Verschwinden war doch nicht vorgesehen gewesen.
Der Teppich dämpfte Schritte, deshalb bemerkte sie den Herannahenden erst, als er sie bereits fast erreicht hatte. Zamorra? , dachte sie. Ist er zurückgekommen?
Aber es war nicht Zamorra. Es war Rhett Saris, der Erbfolger des Llewellyn-Clans. »Lord Zwerg« pflegte Nicole ihn immer noch zu nennen, obwohl der mittlerweile Zwölfjährige nichts Zwergenhaftes mehr an sich hatte. Er wuchs zu einem schlaksigen großen Burschen heran, der mittlerweile begann, sich für Mädchen zu interessieren und dessen schulische Leistungen logischerweise entsprechend nachließen. Was besonders seiner Mutter, Lady Patricia, Sorgen bereitete.
Er selbst machte sich darum keine Sorgen. »Ich muss nicht der Klassenbeste sein«, hatte er erst vor kurzem gesagt. »Streber kriegen immer Ärger und haben keine Freunde.«
Zuhause in Schottland wartete ein Schloss und Grundbesitz auf ihn. Finanziell würde er also wohl kaum darauf angewiesen sein, Bestleistungen zu erbringen und einen hoch dotierten Job zu bekommen. Das Einzige, was er als ein wenig ärgerlich empfand, war, dass er nach der neuen britischen Gesetzgebung nicht automatisch einen Sitz im Oberhaus erhalten würde, wie es früher üblich war.
Andererseits konnte das ihm auch egal sein. »Was schert mich britische Politik, solange nicht wieder ein Stuart rechtmäßig auf dem Thron sitzt?« In dieser Hinsicht war er trotz seiner erst zwölf Jahre ein absoluter schottischer Patriot.
Jetzt schlenderte er heran, in vielfach geflickten Jeans, einem aus der Hose hängenden Hemd und auf dem Kopf einen Funkhörer, über den er sich aus seinem Zimmer Radio- oder CD-Musik übertragen ließ. Bei Nicole angekommen, schaltete er den Funkkopfhörer ab, schob ihn ins Genick und lächelte Zamorras Gefährtin an. »Hi. Was ist denn hier los?«
»Vorsicht«, warnte Nicole. »Zamorra ist spurlos verschwunden. Geh nicht auch in das Verschwindefeld.«
»Das ist doch abgeschirmt«, sagte er stirnrunzelnd.
Verblüfft sah Nicole ihn an.
Weitere Kostenlose Bücher