083 - Das Gasthaus an der Themse
und er ließ das Schiff auslaufen, obwohl er damit rechnete, daß es angehalten würde. Der Verlust wird ihn nicht besonders schmerzen. Sein eigentliches Vermögen liegt irgendwo in Südamerika. Nein, das tut ihm nicht weh - vorausgesetzt, er schafft es, sich selbst auch nach Südamerika abzusetzen. Was ich aber verhindern werde.« Elk schien nicht ganz so überzeugt. »Aikness, ja ja, meinetwegen. Aber was hat Golly Oaks mit der ganzen Sache zu tun? Armer Teufel - für ihn heißt es jetzt: mitgegangen, mitgefangen. Ich mag den kleinen Kerl irgendwie, obwohl er die Stiefmütterchen gekauft hat. Für diese Brüder ist er doch bestenfalls ein Werkzeug.« »Aber ein zweischneidiges, scheint mir«, entgegnete Wade. Er hatte einen Termin beim Polizeigericht und fand dort eine ungewöhnlich große Anzahl von Mrs. Oaks' Freunden und Nachbarn vor. Zwischen Tilbury und Barking Creek gab es wohl keine Flußratte, die Mutter Oaks nicht kannte oder sich nicht wenigstens einmal ihrer diskreten Gastfreundschaft erfreut hatte. Mrs. Oaks selbst saß in einem kleinen Warteraum in der Nähe des Gerichtssaals. Sie hatte offenbar nur wenig geschlafen, war aber ruhig und sachlich. Sie fragte ihn, ob er im »Mekka« gewesen sei, und als er nein sagte, versank sie in ein langes Schweigen.
»Ich hoffe, Sie bereinigen diese Sache heute, Inspektor Wade«, sagte sie schließlich. »Ich begreife nicht, wie Sie gegen mich Anzeige erstatten konnten. Und noch viel unklarer ist mir, wie Sie beweisen wollen, was man mir vorwirft.« Er schüttelte den Kopf. »Der Fall liegt bereits beim Staatsanwalt, und ich werde Vertagung beantragen«, sagte er. Auf ihren Wangen erschienen zwei hektisch rote Flecken, und ihre Augen sprühten vor Zorn. »Na schön, dann können Sie sich aber auf etwas gefaßt machen. Ich habe Freunde, Inspektor Wade, das wissen Sie ja. Lord Siniford wird ...« »Lord Siniford ist tot«, sagte Wade kalt und absichtlich so direkt. Sie wurde feuerrot, dann wich das Blut aus ihrem Gesicht, das plötzlich grau und spitz wirkte. »Tot?« flüsterte sie. Er nickte. »Wann — wann ist er gestorben?« »Er wurde gestern nacht ermordet. Man hat seine Leiche im Fluß entdeckt.«
Sie hatte starr vor ihm gestanden, als sie die Frage stellte. Jetzt gaben ihre Beine nach, und sie schwankte. Wade fing sie auf und setzte sie auf einen Stuhl. Sie war nicht ohnmächtig, in ihren Augen brannte ein geradezu unheimliches Feuer. Ihre Stimme war nur noch ein Krächzen.
»Sie haben ihn ermordet - der Lord wollte sie heiraten -warum hat er das zugelassen?«
Die Antwort, die er ihr gab, kam wie eine Erleichterung über ihn. An diese Lösung hatte er bisher noch keinen Moment gedacht.
»Weil er sie selbst heiraten will«, sagte er, und sie hob die Hand, als müsse sie einen Schlag abwehren. »Nein, nein!« jammerte sie. »Das kann er nicht tun — das würde er nicht tun! Mein Gott, das würde er doch nicht tun!« Wade klopfte ihr leicht auf die Schulter. »Mrs. Oaks«, sagte er, »Sie sind keine treibende Kraft, sondern nur ein ganz kleines Rädchen in der Maschinerie. Ich will ganz offen zu Ihnen sein - warum sprechen Sie nicht? Nehmen Sie Ihre Chance wahr, und stellen Sie sich dem Gericht als Kronzeugin zur Verfügung. Aikness bedeutet Geld für Sie, aber wir wissen inzwischen alles über die ›Seal of Troy‹ und über Lila Smith.« Sie schwieg. »Ich will Sie nicht bluffen, Mrs. Oaks, ich will Ihnen nur helfen.«
Sie sah zu ihm auf, und er war betroffen über den Ausdruck stummer Qual in ihren Augen. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich habe nichts mehr gegen eine Vertagung einzuwenden, und ich möchte auch nicht gegen Kaution freigelassen werden. Vielleicht spreche ich morgen oder übermorgen mit Ihnen.« In sich zusammengesunken und mutlos saß sie auf der Anklagebank. Ihr Anwalt, mit dem sie vor der Verhandlung eine kurze Unterredung gehabt hatte, teilte ihren Entschluß dem berühmten Verteidiger mit, der von heute auf morgen ihre Vertretung übernommen hatte: Sie wollte nicht gegen Kaution aus der Haft entlassen werden. Warum sie aber einen Aufenthalt im Holloway-Gefängnis der Freiheit vorzog, wußte im Gerichtssaal nur ein Mensch. Und dieser Mensch war nicht John Wade.
17
An diesem Tag jagte eine Konferenz die andere, und Wade mußte vor den gefürchteten Großen Vier erscheinen, die keine Ausreden und Entschuldigungen duldeten und keine Irrtümer verziehen. Sie ließen, wie Wade fand, wegen des Zwischenfalls in der »Medway Bank«
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