0840 - Das Drachenmädchen
auszuschalten.«
»Okay.«
Wieder senkte sich die Dunkelheit über sie. Suko und Madame Chu hatten sich Shao zugedreht. Sie lauerten auf eine Reaktion, aber die Chinesin rührte sich nicht.
Die Sekunden verstrichen.
Die Spannung zwischen den drei Menschen verdichtete sich. Es fiel ihnen schwer, daran zu glauben, daß sie sich in einem normalen Büro aufhielten. Hier zeigte sich ihnen plötzlich eine andere Welt.
Sie umgab sie mit all ihren Vor- und Nachteilen, vor allen Dingen mit ihren Tücken.
»Ich glaube… ich glaube…« Shao führte den Satz durch ihr Stöhnen fort. »Da… da ist etwas…«
»Was denn?«
»Sie!«
Shao hatte derart sicher gesprochen, daß es auch für die anderen beiden keinen Zweifel gab. Falls noch welche vorhanden waren, wurden sie in den folgenden Sekunden ausgeräumt, denn sie hörten plötzlich die fremde, geisterhaft wispernde Stimme, deren Klang von überall herkam, von oben, von unten, von der Seite.
»Shao… bist du da?«
Die Angesprochene stand für die nächsten Augenblicke still. »Ja, ich bin da…«
Ein leises Lachen.
Es verklang.
»Zeig dich, Li! Ich will dich sehen. Wenn du mich siehst, warum kann ich dich nicht sehen?«
»Du wirst mich sehen, Shao. Du wirst all das erleben, was du dir erträumt hast. Nie hätte ich gedacht, daß wir beide uns einmal sehen. Wir haben Zeit, wir haben alle Zeit deiner Welt. Die Nacht ist noch lang, und ausgerechnet du bist in mein Reich gekommen. Ausgerechnet du.«
»Warum ich?«
Wieder lachte die Unsichtbare. »Weil du die letzte in der langen Ahnenkette bist. Die Sonnengöttin Amaterasu hat dich ausgesucht. Ausgerechnet sie, die sich immer gegen die anderen Mächte gestellt hat. Sie wollte die Helligkeit, wir nicht. Sie ist eine Feindin des Todesdrachen, des großen Herrschers, und ich bin wirklich froh, daß du den Weg in mein Reich gefunden hast.«
»Ich will dich sehen.«
»Bald, Shao, sehr bald…«
Es waren die letzten Worte, die flüsternd ihre Ohren trafen. Etwas huschte wie ein kalter Nebelstreif durch den Raum, dann war alles wieder normal, bis auf die Dunkelheit.
»Sie ist weg«, sagte Shao. »Und ich fühle mich so unwahrscheinlich hilflos.«
»Warum?«
Shao drehte sich um und ging auf Suko zu. Als sie sich an ihn lehnte, legte er seinen Arm um ihre Hüfte. »Das kann ich dir sagen. Ich fühle mich nackt. Damals, als ich noch die Maske trug und die Armbrust besaß, war ich stärker. Aber jetzt…«
»Du weißt noch immer nicht, wo diese Waffen geblieben sind?«
»Nein, nicht genau. Ich gehe davon aus, daß sie in einer anderen Dimension liegen. Im Reich der Sonnengöttin, aber das ist alles nicht sicher, Suko. Wenn sie erscheint, werden wir ihr mit leeren Händen gegenübertreten müssen.«
»So wehrlos sind wir nicht.«
»Ich schon.«
Suko merkte, wie Shao zitterte. »Weißt du denn, was sie vorhat oder vorhaben könnte?«
In Sukos Griff hob Shao die Schultern. »Sie wird mich holen wollen, davon gehe ich aus. Denk daran, daß es einen Weg gibt. Die Lücke in der Wand des Hauses. Sie ist offen. Das ist der Tunnel in die Unendlichkeit, wenn ich das mal so sagen darf. Sie beherrscht ihn, ich bin wehrlos, sie wird mich hineinziehen können.«
»Was auf keinen Fall geschehen darf!« meldete sich Madame Chu.
Shao drehte sich aus dem Griff. »Wie willst du es verhindern? Durch die Puppe?«
»Es wäre eine Möglichkeit.«
»Dann fang damit an.«
»Das wollte ich auch. Ich hatte bisher nur noch keine Gelegenheit dazu.«
Es war nur mehr zu ahnen, daß sich die alte Frau bewegte. Suko wollte es ihr erleichtern und schaltete wieder die Lampe an. Er hielt den Strahl in ihre Richtung. Von der Seite her tauchte die Hand dem hellen Balken auf, und auch die Figur erhielt ein anderes Aussehen. Sie wirkte längst nicht mehr so dunkel.
Das Licht hatte die Figur sichtbar gemacht. Selbst die Augen schienen zu leuchten, und das Kleinod sah im scharfen Licht gespenstisch klar aus.
Madame Chu hatte die Figur auf einen Schreibtisch gestellt und schaute auf sie nieder. Dann holte sie den Koffer hoch und legte ihn ebenfalls auf den Schreibtisch.
Sie klappte den Deckel auf. »Ich werde jetzt einige Vorbereitungen treffen müssen. Ich möchte noch nicht mit dem stärksten anfangen, sondern mich ihr langsam nähern. Dabei setze ich voraus, daß in dieser Figur die Kraft des Drachen steckt, und genau das müßte auch Li Warren spüren. Begreift ihr das?«
»Ich denke schon«, sagte Suko. »Nur frage ich mich, wohin es
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