0840 - Das Drachenmädchen
wie er aussah, war es kein Mann, sondern eine Frau.
Suko brauchte nicht lange zu grübeln, wen er da vor sich hatte. Das mußte Li Warren, das Drachenmädchen, sein.
Suko tat nichts. Er wollte das andere Wesen aus der Reserve locken, aber daran dachte das Drachenmädchen nicht. Es blieb vor der Wand stehen. Oder stand es darin?
Selbst auf diese kurze Entfernung konnte Suko es nicht mit Bestimmtheit sagen. Es war ein zu unwirkliches Bild, wie mit dem Diaprojektor gemalt. Ob in der Wand oder davor, das hätte kein menschliches Auge mit Bestimmtheit erfassen können.
»Da ist sie!« Madame Chus Stimme zitterte leicht. »Ich wußte es doch. Ich wußte, daß ich sie nicht getötet habe. Alles ist so gekommen, wie ich es mir dachte. Man kann die Figur vernichten, aber man kann nicht sie treffen.«
»Ich werde sie holen«, erklärte Suko. Er faßte bereits nach seiner Dämonenpeitsche. Schon vor einigen Sekunden hatte er darüber nachgedacht, ob es ihm wohl gelingen konnte, die Person oder das Wesen zu vernichten. War die Peitsche tatsächlich in der Lage, auch Geister zu töten?
Er kam nicht dazu, denn Li Warren löste sich. Das geschah völlig lautlos, aber das leichte irisierende Flimmern zeigte Suko an, daß sie tatsächlich nicht vor der Wand gestanden hatte, sondern ein Teil des Gefüges gewesen war.
Auch jetzt war nichts zu hören, als sie sich von ihrem Standort fortbewegte. Sie schwebte über den Boden, sie war ein Geist, eine Projektion, ein feinstofflicher Körper. Sie war nur mehr Aura, was Suko genau erkennen konnte, denn er hatte sich gedreht und verfolgte mit dem Strahl der Lampe den Weg dieser Person, die sich durch das Büro bewegte, als würde sie es beherrschen.
Noch etwas geschah.
Eine Sache, mit der die drei nicht zurechtkamen, denn auf dem Weg veränderte sich das Drachenmädchen.
Es geschah etwas mit ihrem Körper.
War er bisher feinstofflich gewesen, so nahm er von nun an mehr an Dichte zu.
Der Geist verwandelte sich in einen Menschen.
Das Feinstoffliche verging.
Zurück blieb das Stoffliche.
Knochen, Fleisch und Blut, aber keine Veränderung im Gesicht.
Madame Chu, Shao und Suko sahen staunend diesem unheimlichen und im Prinzip unerklärlichen, durch Magie bestimmten Vorgang zu, der auf diese wundersame Weise ablief und dem Li Warren auch Rechnung tragen mußte, denn als Geisterscheinung hätte ihr kein Möbel im Weg gestanden.
Als Mensch mußte sie den Schreibtischen und Stühlen ausweichen, was sie mit traumwandlerischer Sicherheit schaffte.
Es sprach keiner von ihnen, und auch das Drachenmädchen blieb stumm, obwohl es sicherlich in der Lage gewesen wäre, sich zu artikulieren wie ein Mensch.
Shao und Madame Chu standen noch immer dicht beisammen. Suko verfolgte das Drachenmädchen. Er blieb ihm nicht direkt auf den Fersen, sondern hatte einen kleinen Bogen geschlagen, um schließlich so stehenzubleiben, daß sie Li in die Zange bekamen.
Nichts wies mehr daraufhin, daß sie noch vor wenigen Sekunden ein Geist gewesen war. Alles hatte sich gedreht, war anders geworden. Zwischen ihnen stand ein Mensch aus Fleisch und Blut, der jetzt langsam seinen Kopf von einer Seite zur anderen drehte, als wollte er jede fremde Person mit seinen Blicken bis auf den Grund der Seele treffen.
Li gab ihnen Zeit, sie genau zu beobachten. Suko und Shao erinnerten sich bestimmt an das Bild in der Wand. Dort hatte sich ebenfalls ihr Gesicht abgezeichnet.
Li Warren war kleiner als Shao. Sie wirkte auch zarter, im Prinzip harmlos. In ihrem Gesicht vermischten sich die europäischen mit den asiatischen Merkmalen, und man konnte sie durchaus als eine aparte Schönheit bezeichnen.
Madame Chu hatte ihre Überraschung verdaut. Auch, darüber, daß aus dem Geist ein völlig normaler und angezogener Mensch geworden war. Li Warren hatte eine Hose und einen dünnen Pullover über den Körper gestreift. Die Haut hatte den hellen Glanz von Jade, und nur die leicht schräg stehenden Augen schimmerten dunkel.
»Du bist gekommen«, sagte Madame Chu mit krächzender Stimme. »Du hast uns aus deiner Welt besucht, und ich habe dich gesucht. Weißt du das, Li Warren?«
Sie nickte. Ein Zeichen, daß sie auch die Sprache der Frau verstanden hatte.
»Warum bist du hier erschienen?« fragte die ältere Frau weiter. »Warum bist du nicht in deiner Welt geblieben?«
»Weil mir das Haus hier gehört.«
»Das kann ich nicht beurteilen. Aber man hat dir Rechnung getragen. Man hat den Weg für die Geister frei gelassen.
Weitere Kostenlose Bücher