0843 - Tunnel der hungrigen Leichen
Spannung etwas nach. Ich war nicht angegriffen worden, aber noch immer drängten sich die Befürchtungen in mein Bewußtsein, daß aus der Tiefe oder aus den Teilen der nicht sichtbaren Wände plötzlich eine Gefahr entstieg, der ich nichts entgegenzusetzen hatte.
Nein, das geschah nicht. Und so wanderte ich weiter mühsam durch den Schlamm. Ein einsamer Mensch in einem Tunnel, der irgendwo im Nirgendwo lag.
Die sumpfige Flüssigkeit war schwer. Sie wurde durch mich bewegt, sie klatschte gegen mich, sie schaukelte, sie behielt ihre Farbe bei, wurde weder dunkler noch heller, und noch immer wühlte ich sie nicht mit den Händen auf.
Es war ein schwerer Gang, anstrengend und ermüdend. Je länger ich marschierte, um so mehr wunderte ich mich, daß nichts passierte. Ich kam mir vor wie ein Versuchskaninchen, daß eben auf diese eine Strecke geschickt worden war. Ich interessierte mich auch nicht mehr für das, was in meiner unmittelbaren Nähe zu sehen war, sondern schaute nach vorn, weil ich einfach davon ausging, daß dieser Tunnel mit der Spitzbogendecke irgendwann einmal ein Ende haben mußte. Die Luft war nach wie vor schlecht. Sie war feuchtkalt und roch nach Abfall und Fäulnis.
Ich sah noch immer keinen Sinn in meiner Wanderei durch diesen stinkenden Schlammfluß, und ich konnte auch vor mir kein Ende des Tunnels erkennen.
Er führte weiter, hinein in die Tiefe. Mich rief jemand.
»John Sinclair…« hallte es durch den Tunnel.
Ich drehte mich um.
Rob Exxon hatte mich gerufen. Die Plattform war ziemlich weit von mir entfernt, ich mußte schon genau hinschauen, um Rob und Jolanda auszumachen.
»Was ist?«
»Du bist weit genug gegangen. Bleib dort stehen, wo du bist.« Seine Worte waren schwer zu verstehen, weil das eine immer das andere einzuholen versuchte.
Ich hob die Arme und nickte zugleich. Ein Zeichen, daß ich begriffen hatte.
Wenig später kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Beide kletterten in den Fluß.
Zuerst Rob, dann sprang Jolanda hinein, die mit dem Kopf schüttelte und die Schultern anhob, weil sie ihren Umhang richten wollte. Ihre Zöpfe flatterten dabei. Sie peitschten mal gegen das Gesicht oder landeten im Nacken.
Wenn ich das Geschehen hier mit einer Oper verglich, so hatte ich mit der Ouvertüre begonnen. Das eigentliche Drama aber würde noch folgen, denn irgend etwas mußte ja passieren.
Sie blieben dicht nebeneinander. Rob Exxon ging vor, Jolanda blieb einen Schritt hinter ihm, als wollte sie ihm den Rücken decken, und die Spitze ihrer Waffe schwebte dicht über der Oberfläche.
Ich erinnerte mich daran, beim Betreten dieses Kanals sehr wachsam gewesen zu sein. Nur hielt meine Wachsamkeit den Vergleich zu der anderen nicht aus.
Beide machten mir den Eindruck, als warteten sie nur darauf, daß irgendwelche Feinde erschienen, denn sie wirkten irgendwie sprungbereit, und sie hielten ihre gefährlichen Waffen so, daß sie jeden Augenblick auf einen Gegner einstechen konnten, der urplötzlich aus der schlammigen Tiefe erschien.
Mir hatte man nichts getan.
Warum sollte es bei ihnen anders sein? Es war nur ein Gedanke. Möglicherweise standen die beiden in einer Verbindung zu den Geheimnissen, die der Kanal noch für sich behalten hatte.
Sie kamen näher.
Rob Exxon schaute nach rechts, Jolanda nach links. Dabei blickten sie kaum auf die Oberfläche. Ihr Interesse galt mehr, den düsteren und feuchten Wänden, wo auch die Lichtpunkte die gesamte Dunkelheit nicht vertreiben konnten.
Ihre Schritte und Bewegungen waren ebenso schwer wie die meinen. Auch sie hatten mit der Tücke des Objekts zu kämpfen - und mit einer völlig anderen.
Etwas zuckte an Exxons Seite aus der Wand. Ein Schatten nicht mehr. Und er war ebenso rasch verschwunden, wie er aufgetaucht war. Ich hatte ihn nicht erkennen können, aber der Einäugige hatte ihn trotz seiner Behinderung gesehen und bewegte ruckartig seine Waffe in diese Richtung.
Er schlug zu und traf nicht.
Der Schatten - oder was immer es war - hatte sich ebenso schnell wieder zurückgezogen.
Jolanda und Rob waren stehengeblieben. Sie hatten Kampfhaltung eingenommen und sich in verschiedene Richtungen gedreht, standen aber Rücken an Rücken, als wollten sie sich gegenseitig Schutz geben.
Es hatte sich etwas verändert, was nicht nur mit dem schnell auftauchenden Schatten zu erklären war. Ich bemerkte, daß diese dicke Flüssigkeit, in der ich bis zu den Oberschenkeln stand, unruhiger geworden war. Als Brodeln konnte ich es nicht
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