0843 - Tunnel der hungrigen Leichen
bezeichnen, es war mehr eine Unruhe, die durch den Schlamm trieb.
Ich wartete.
Auch Jolanda und der Einäugige rührten sich nicht. Im Gegensatz zu mir wußten sie wahrscheinlich, was auf sie zukommen würde. Rob hatte seine Arme erhoben und auch seine Waffe. Er war bereit, sofort zuzuschlagen, wenn die Gefahr aus der trüben Brühe erschien.
Jolanda hatte sich ebenfalls voll und ganz auf den Kampf eingestellt. Ihre kurze Lanze deutete mit der Spitze schräg auf die grünbraune Oberfläche, die wieder still lag.
Ruhe vor dem Angriff.
Auf einmal waren sie da.
Schwere Wellen rollten gegen mich, und mir kam es so vor, als wollten sie mich dabei aus den Schuhen heben. Durch den zähen Schlamm am Grund geriet ich ins Schwanken oder Trudeln, aber meine Aufmerksamkeit wurde von anderen Dingen eingenommen.
Hände erschienen.
Nein, keine menschlichen Hände. Große, dunkle, widerlich aussehende Krallen mit graugrüner, straffer Haut. Ich sah auch Gelenke und Unterarme, mehr aber nicht, denn der Körper steckte noch in den beiden Wänden. Es wurden immer mehr, und die griffbereiten Hände wanderten auf mich zu.
Es sah wirklich so aus, als würden der Reihe nach verschiedene Klappen in der Wand geöffnet.
Endlich konnten sie ihr Geheimnis preisgeben. Die Anzahl der Klauen wuchs rasch, und sie blieben nicht starr, denn die Finger schnappten immer wieder zu, ohne allerdings bisher ein Ziel gefunden zu haben.
Selbst Jolanda und Rob wurden nicht angegriffen. Die Klauen ragten einfach nicht weit genug hervor, um sie fassen zu können.
Aber auf mich wanderten sie zu.
Es wurden immer mehr, und ich suchte vergeblich nach einem Ausweg. Es hatte keinen Sinn, wenn ich zurückging, sie würden mich bald eingeholt haben, deshalb blieb ich stehen, beschäftigte mich aber gleichzeitig mit den Gründen für dieses Geschehen, das überhaupt nicht in mein bisheriges Bild des Falles passen wollte.
Ich drehte den Kopf nach rechts.
Aus der Wand und genau in meiner Höhe stieß die Hand hervor. Zuerst als Faust. Kaum hatte sie ihr Versteck verlassen, bildete sich daraus die Klaue, und an der linken Seite erlebte ich das gleiche Phänomen. Ich stand da, war in die Zange genommen worden und schaute auf die zuckenden Krallen, die zwar nach mir schnappten, aber immer ins Leere griffen.
Ich drehte mich um.
Hände, wohin ich schaute.
Rechts und links waren sie aus dem Fels gestoßen. Sie alle sahen irgendwie gleich aus, obwohl sie eine unterschiedliche Größe aufwiesen. Möglicherweise wechselten sich da Frauen- mit Männerhänden ab. Genau konnte ich es nicht sagen.
Wem gehörten die Hände? Wie sahen die Arme, die Körper dieser Wesen aus, die sich in den Wänden versteckt hielten? Ebenfalls so braungrün und widerlich naß?
Was war unter der Oberfläche?
Ein kalter Schauer erwischte mich, als ich mich damit beschäftigte. Wenn sie dort auch erschienen waren und zugriffen dann sanken meine Chancen auf Null.
»John Sinclair!« rief Rob Exxon.
»Ich bin in Ordnung!«
Er lachte, und sein Lachen hallte durch den Tunnel, als wollte es die Wände aufreißen. »Du hast sie jetzt gesehen, deine Feinde. Nimm sie hin, denke daran, daß sie eine Tatsache sind. Du kannst sie anfassen, wenn du willst. Du bildest sie dir nicht ein, denn es gibt diese alte Gracht ebenso, wie es uns gibt.«
Was hatte er gesagt? Gracht? Klar, verhört hatte ich mich nicht. Und ich wußte auch, wo ich diese Grachten fand. Eine Stadt in den Niederlanden war dafür berühmt - Amsterdam!
Im Moment begriff ich nichts mehr. Wenn das stimmte, dann war ich nicht in eine fremde Dimension oder Welt entführt worden, sondern in einen Tunnel, in eine Gracht in Amsterdam.
»Aber warum?« rief ich. »Was ist…?«
»Der alte Fluch, John. Das Erbe. Uralt. Der alte Kampf, wir stehen allein, wir…«
In diesem Augenblick griffen die Hände zu. Sie streckten sich und bewegten sich dabei ruckartig nach vorn, um mit ihren Klauenfingern den Einäugigen und Jolanda packen zu können.
Beide schrieen auf.
Es war ein Kampfgeschrei, der aus ihren Mündern drang, und ich erlebte sie zum erstenmal in Aktion. Sie zeigten mir, wie sie ihre Waffen handhabten, mit der deformierten Axt und mit der anderen Waffe hackten sie gegen die greifenden Hände. Sie schlugen sie ab, sie schauten zu, wie die Finger in den Schlamm fielen und darin versanken.
Ich hörte das Klatschen, wenn die Waffen trafen. Es floß kein Blut, aber das eigentliche Phänomen war nicht die Zerstörung der Hände.
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