0846 - Flucht aus Tilasim
Bann war gebrochen, irgendwann während des Schmerzes, während er dem Tode so nahe gewesen war. Als er tiefer und erschöpfter schlief als jemals zuvor, als sein Unterbewusstsein die Erinnerung an seine Kindheit freigab und seine Seele erschüttert wurde wie niemals zuvor, hatte er Kelvos Einfluss abgestreift.
Er war kein Sklave des Dämons mehr! Er war frei.
Und er war nicht einmal mehr Farga, die Schlangenfrau, denn auch diese Existenz war nicht echt.
Er war wieder…
Wieder der Mensch, der er wirklich war.
Und ahnte doch nicht, dass er das letzte Geheimnis immer noch nicht durchbrochen hatte. Immer noch hielt er sich für eine Frau, ahnte nicht, dass es sich dabei um eine Täuschung handelte, die er einst bewusst herbeigeführt hatte und die danach von Kelvo fortgeführt worden war.
Er schloss die Augen, und jetzt konnte er seine Mutter sehen, wie sie ihn gerufen hatte, damals: LIEBLING, MEIN LIEBLING. Ihre Züge waren weich und unendlich schön, alle Sehnsucht und alle Sicherheit des Lebens vereinigten sich in diesem Zufluchtsort.
Farga konzentrierte sich, versank weit in der Vergangenheit, und dann sah er, wie seine Mutter Lippen einen Namen formten. Er las es, und er hörte es: Johannes.
Komm her; Johannes, komm, was ist mit deinem armen Knie geschehen? Du bist ja hingefallen, mein Liebling.
Johannes? Ein Männername! Wie konnte…
In diesem Moment fiel die letzte Erinnerungsblockade.
Er öffnete die Augen, und das Antlitz der Mutter verblasste, wehte fort wie ein Hauch. Auch die Stimme verging, verschwand wieder in der Vergangenheit, dorthin, wo sie einst erklungen war.
Etwas anderes blieb, drang an seine Ohren, über den Abgrund der Jahrhunderte. Das Weinen eines Kleinkindes. Schrill und endgültig, als empfände es allen Schmerz der Welt.
Er hörte es, und es drang durch seine Ohren bis ins Herz.
Das Weinen stammte von ihm selbst, von dem kleinen Johannes, der gestürzt war und sich das Knie aufgeschlagen hatte. Es blutete.
Unwillkürlich fuhren seine Hände über die nackten Oberschenkel bis zum Knie, tasteten die unversehrte Haut und vermeinten doch, das klebrige Blut zu spüren, wie es warm über das Schienbein lief.
Ihm schwindelte.
Der vorgetäuschte weibliche Körper war so real, dass er vermeinte, weiche, weibliche Haut zu spüren. Er sah an sich hinunter und erkannte Brüste, breite, runde Hüften…
Alles eine Frage der Suggestion, wurde ihm klar. Ich täusche normalerweise alle anderen, und jetzt täusche ich mich selbst.
In dem Augenblick der Erkenntnis erlosch die Täuschung, und Johannes sah sich so, wie er wirklich war. Ein muskulöser Männerkörper. Eine breite, dicht behaarte Brust.
Er glaubte, das Herz drehe sich ihm um, überwältigt von dem Empfinden, frei zu sein. Gleichzeitig erkannte er jedoch, dass er noch nicht wirklich frei war.
Er hatte zwar seine Seele, seinen Geist befreit, aber sein Körper blieb gefangen. Er hatte Kelvos Bann abgeschüttelt, konnte aber die Höhle nicht verlassen.
Nicht umsonst hatte der Schattendämon den Wächter hinterlassen, das schreckliche Untier.
An ihm würde er nicht vorbeikommen.
Nicht ohne Kampf zumindest. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Jetzt gehorchten ihm alle Muskeln, war die Kälte der Umgebung und des Todes besiegt, vertrieben von dem Feuer des Zorns und der Rachegelüste.
Er zitterte immer noch, doch jetzt vor Wut.
Kelvo hatte ihn hier gefangen gehalten, für Jahrzehnte, Jahrhunderte möglicherweise. Er hatte ihr das Leben geraubt, die Freiheit, das Recht der Selbstbestimmung, sogar die Erkenntnis über sein Geschlecht.
Johannes' Atem ging schwer. Er glaubte, vor Zorn und Hass bersten zu müssen, als er sich erinnerte, dass Kelvos Untaten noch weitergegangen waren.
Er hatte ihn ausgesaugt, sich nicht nur an seinem Blut bedient, sondern auch an seiner Lebenskraft. Kelvo hatte ihm das geraubt, was nur ihm zustand, weil er auserwählt war und weil er seine Konkurrenten besiegt hatte. Er hatte es geschafft, den Weg zur Quelle des Lebens anzutreten, nicht Kelvo. Die Kraft der Unsterblichkeit gehörte ihm!
Ihm und niemandem sonst!
Und schon gar nicht diesem widerlichen, Ekel erregenden Schattendämon.
Er erinnerte sich auch daran, wie es sich anfühlte, wenn Kelvo kam, wenn er seinen Körper, seine Wolke über ihn stülpte. Wenn er sich seiner bediente, auf die abscheulichste Art in ihn eindrang, ihm Blut und Wasser und die Kraft der Unsterblichkeit entzog. Wenn er ihm das raubte, was ihn bestimmte, sich durch
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