0855 - Spektrum des Geistes
ankündigten. Anfangs passierte es, daß er sich auf offener Straße zu Boden warf, wenn irgendwo das Warnsignal eines Fahrzeugs ertönte. Das sprach sich herum, und die Kinder machten sich einen Spaß daraus, Sirenengeheul nachzuahmen, um Boyt in panische Angst zu versetzen.
Das war aber nicht mit ein Grund, daß er zum Einzelgänger wurde. Sicher war es schwer für den Albino, Freunde zu finden, weil er anders als die anderen war. Aber das lag weniger an seinem Aussehen. Gäa war zu einem Schmelztiegel für unzählige Menschenvölker und Fremdvölker geworden. Rassenvorurteile gab es nicht. Aber es schien, daß Kinder Boyts psychische Andersartigkeit besser erkannten als Erwachsene. Sie begannen ihn deswegen zu fürchten, und weil sie den Angriff für die beste Verteidigung zu halten schienen, setzten sie ihm auf mannigfaltige Weise zu.
Boyt schluckte alle diese Schläge, nur seiner Mutter vertraute er sich an.
„Ich hasse sie! Ich werde ihnen alles heimzahlen."
„Man soll Gleiches nicht mit Gleichem vergelten, Boyt", ermahnte ihn seine Mutter.
„Keine Sorge, Virna, das habe ich auch nicht vor", versprach er. Das Wort „Mutter" brachte er einfach nicht über die Lippen, und Virna fand sich damit ab.
In der Nachbarschaft wohnte ein achtjähriger Junge namens Cloen, der Boyt besonders arg zusetzte, obwohl seine Eltern, mit Virna und Vic recht gut befreundet, alles versuch-ten, daß sich die beiden vertrugen.
Cloen war musisch begabt, sportlich interessiert, ein Musterschüler, der in technischen und naturwissenschaftlichen Bewerben schon über ein Dutzend Anerkennungsurkunden eingeheimst hatte - entsprechend eingebildet war er. Dennoch konnte er sich über mangelnde Freundschaften nicht beklagen, denn er besaß auch das Charisma des verläßlichen Kameraden.
Was seine Talente betraf, war er väterlicherseits erblich belastet, denn sein Vater war ein Allround-Genie, vom Fach her ein Xenozoologe, aber auf allen Gebieten beschlagen. Von einer seiner Reisen nach Vincran hatte er Cloen ein kleines Haustier mitgebracht, das die Sensation der gesamten Siedlung wurde. Cloen sah darin jedoch nicht nur einen Spielgefährten, sondern mehr noch ein Forschungsobjekt. Seine Eltern legten jedoch Wert darauf festzustellen, daß er es in keiner Weise quälte oder inhumane Experimente mit dem „Mungokätzchen" anstellte.
Dies wollte Boyt widerlegen, und er bekam auch bald Gelegenheit dazu, als Cloens Eltern Virna und Vic und ihn zu sich einluden, um einen neuen Annäherungsversuch ihrer Kinder zu machen.
Cloen war angeberisch und eklig wie immer. Boyt, der längst um die Wirkung seines Engelsgesichts auf Erwachsene wußte, bescheiden und artig.
„Zeigst du mir dein Mungokätzchen, Cloen?" bat Boyt höflich.
„Damit du es am Schwanz ziehen kannst, was!" erwiderte Cloen giftig.
Boyt traten die Tränen in die Augen.
„Nun sei nicht so, Cloen", schalt Frau Bellon ihren Sohn.
„Sicher hat er das arme Tier viviseziert oder so und kann es deshalb nicht herzeigen", sagte Boyt mit weinerlicher Stimme.
„Pah", machte Cloen und lief davon, um den Gegenbeweis anzutreten.
Als er zurückkam, ging alles so schnell, daß niemand hätte sagen können, was wirklich passierte. Nur Cloen schien es zu ahnen, und Vic und Virna bemerkten auch etwas, denn Vic sagte später, daß er gespürt habe, wie die Luft in Boyts Nähe förmlich „vibrierte".
Cloen erschien mit dem Terrarium, in dem das Mungokätzchen untergebracht war.
Boyt eilte ihm entgegen. Sein Gesicht war angespannt und gerötet, so als stehe er unter star-kem Druck und finde kein Ventil, um ihn loszuwerden. Aber dann hatte er das Ventil ge-funden, seine Spannungen entluden sich in einem Augenblick.
Cloen schrie. Boyt taumelte, mußte sich stützen. Das Terrarium entfiel Cloens Händen, der Deckel sprang auf. Etwas kollerte heraus, das einmal das Mungokätzchen gewesen war. Es war verrunzelt, wie gedörrt, das Fell gebleicht.
„Mir ekelt!" schrie Boyt. „Dieser Rohling hat das arme Tier umgebracht."
Virna mußte Boyt nach Hause tragen, so schwach war er. Cloen war fortan als Tierquä-ler verschrien, und Boyt hatte vor ihm Ruhe.
*
„Wir müssen etwas für deine Bildung tun, Boyt."
„Ich habe auf Zwottertracht viel gelernt, Virna."
„Die Erfahrungen, die du in der Wildnis gemacht hast, helfen dir in der Zivilisation nicht weiter."
„Ich bin lernbegierig."
„Das Wissen, das du fürs Leben brauchst, kannst du dir nicht autodidaktisch
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