0855 - Spektrum des Geistes
aus der Milchstraße gebracht wurden. Virna schaltete das Gerät aus.
In der plötzlichen Stille war ein schlurfendes Geräusch zu hören. Schritte. Sie kamen aus dem Flur, der zu den Ruheräumen führte. Eine große, schlanke Gestalt tauchte auf.
Es war ein kahlköpfiger Vincraner.
Virna erkannte ihn sofort.
„Galinorg!" entfuhr es ihr. „Sie hier?"
„Ich gehe schon. Meine Pflichten auf Zwottertracht rufen mich."
Ohne weitere Erklärung ging er an ihr vorbei und verließ das Haus. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Sie blickte ihm nach, wollte ihm folgen, erinnerte sich dann aber Vics.
Als sie sich wieder dem Flur zuwandte, kam ihr von dort ein fremder Junge entgegen.
Er war ein Albino, mit der blassen Haut der Vincraner. Seine Augen waren groß und von einem dunklen Blau, und es ging etwas Zwingendes davon aus. Das hervorstechendste Merkmal waren jedoch die Haare, die er glatt aus der vorgewölbten Stirn gebürstet trug, und die einen türkisfarbenen Ton hatten. Zudem hatten sie einen metallischen Schimmer. Irgendwie wurde Virna sofort an die Psychode des Harzel-Kold erinnert, und das löste in ihrem Kopf eine wahre Assoziationskette aus.
Sie wich unwillkürlich zurück. Der Junge stand nur da und starrte sie aus seinen klugen Augen an. Der Größe nach zu schließen, konnte das Alter stimmen - er müßte sechs sein. Aber die Augen paßten nicht zu einem Kind. Sie mußte sich gewaltig anstrengen, um sich von dem zwingenden Blick zu lösen.
Jetzt erst sah sie, daß er einen ovalen Metallreif um den Hals trug, an dem ein Anhänger von der Größe einer Walnuß hing. Dieses Amulett wirkte roh, ähnlich wie ein ungeschlif-fener Kristall, trotzdem erinnerte sie das Material an jenes, aus dem Harzel-Kolds Psy-chode erschaffen worden waren.
Die Hand des Jungen fuhr hoch und schloß sich besitzergreifend um das Amulett. Er blickte sie immer noch leicht herausfordernd an.
„Hat Galinorg dich von Zwottertracht gebracht?" fragte sie benommen. „Bist du...?"
Der Junge nickte und sagte mit einer weichen, aber gar nicht kindlich wirkenden Stimme: „Ich bleibe jetzt bei dir, es wird sich zeigen, für wie lange."
Hinter ihm entstand ein Gepolter. Vic Lombard kam ins Wohnzimmer gestürmt. Seine Augen waren blutunterlaufen, mit der gesunden Hand hielt er sich den Kopf, sein Armersatz deutete auf den Jungen.
„Wer ist das?" brüllte er. „Ein Vincraner hat ihn hergebracht und gesagt, daß du dich um ihn kümmern sollst. Als ich ihn hinauswerfen wollte, da hielt mir der Bengel den Anhänger, den er um den Hals trägt, hin - und dann weiß ich nichts mehr."
Der Junge versteckte das Amulett schnell unter dem Gewand, als fürchte er, Vic könnte es ihm wegnehmen. Dann begann er haltlos zu schluchzen und drängte sich schutzsu-chend an Virna. Sie legte die Arme um ihn und streichelte ihn.
„Er ist mein Sohn", sagte sie dabei. „Harzel-Kold ist sein Vater."
Vic starrte sie entgeistert an.
„Ich dachte, dieses Kind sei tot zur Welt gekommen."
„Das habe ich erfunden, um Komplikationen aus dem Weg zu gehen", sagte Virna.
„Ich dachte nicht, daß ... Aber egal, da er nun einmal hier war, werde ich seine Erziehung ü-bernehmen."
„Ich muß mich wohl fügen", sagte Vic und warf dem Jungen einen mißtrauischen Seitenblick zu. „Wie heißt du eigentlich?"
*
Virna nannte ihn Boyt. Sie sah Schwierigkeiten mit den Behörden auf sich zukommen, aber Boyt selbst machte den Vorschlag, daß sie ihn als Adoptivsohn registrieren lassen sollte, und das war wirklich die einfachste Lösung. Sie gab ihn als Boyt Margor aus, eine Waise aus der Milchstraße, dem sie die Mutter ersetzen wollte.
Damit waren die Probleme aber nicht aus der Welt geschafft.
Boyt gewöhnte sich nur schwer an die veränderten Lebensbedingungen. Schon in der ersten Nacht bekam er einen hysterischen Anfall, als während einer Störung aus dem Lautsprecher des TV-Geräts ein durchdringender Heulton erklang.
Boyt lief wie von Sinnen durchs Haus, pochte gegen die Fenster und hämmerte in pani-scher Angst gegen die Wände. Schließlich warf er sich auf den Boden und barg den Kopf schützend unter den Armen.
„Das war keine Sturmwarnung, Boyt", versuchte Virna ihm zu erklären. „Auf Gäa gibt es keine Sandstürme, und folglich haben die Häuser keine Sicherheitsanlagen."
Aber alles gutes Zureden nutzte nichts. Es dauerte lange, bis Boyt aus eigener Erfahrung zu der Erkenntnis kam, daß sirenenartige Geräusche auf Gäa keinen Sandsturm
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