0855 - Spektrum des Geistes
einem Alptraum.
Sie konnte nichts sehen, die Schreie ringsum schluckten alle anderen Geräusche. Und dann begann Virna in ihrer Qual selbst zu schreien.
Sie merkte es kaum, als ihr in der Finsternis die Kleider vom Leib gestreift wurden.
Aber sie empfand es als erleichternd, als man ihren prallen Bauch mit einer kühlenden Flüssig-keit einrieb.
Die Arme wurden ihr zusammengebunden. Jemand drückte ihr etwas zwischen die Zäh-ne. Man verband ihr die Augen, verstopfte ihr die Ohren, ein breites Band spannte sich um ihre Leibesmitte, wurde fester angezogen, zusammengeschnürt.
Danach geschah lange Zeit nichts. Virna dachte in diesem unendlichen Augenblick dar-an, daß sie am liebsten sterben möchte.
Aber sie starb nicht, und die Schmerzen hörten auf. Sie fühlte unsägliche Erleichterung. Man löste sie von den Fesseln, drückte ihr etwas in die Hand. Nachdem man ihr auch die Stöpsel aus den Ohren genommen hatte, hörte sie das Etwas schreien.
Ihr Kind war geboren. Es war ein Sohn, aber das hatte sie längst schon gewußt.
Man brachte sie in eine kleine Nische. Dort schlief sie mit dem Neugeborenen in den Armen ein. Als sie irgendwann erwachte, mußte sie feststellen, daß man sie eingemauert hatte. Es gab nur ein kleines Loch, durch das man ihr Nahrung zuschob.
Virna wußte nicht, was ihr vorgesetzt wurde, sie aß es dennoch mit Heißhunger.
Sie hatte nie herausgefunden, wie lange sie eingemauert gewesen war. Sie stumpfte völlig ab, zählte nicht die Mahlzeiten, hätte später auch nicht sagen können, wie oft sie ihr Kind stillte.
Als man sie dann aus dem Loch ließ, empfand sie weder Freude noch Erleichterung.
Man wickelte ihr Kind in eine Decke. Dafür war sie dankbar, denn sie hatte Angst, es ansehen zu müssen.
Aber das blieb ihr dann doch nicht erspart.
Am Ausgang der Höhle angelangt, wickelten die Zwotter das Kleinkind aus. Sie strahlten vor Stolz, wie es leibliche Väter nicht aufrichtiger hätten tun können.
Virna schrie vor Entsetzen, als sie das Kind sah. Sie bekam nur einen verschwommenen Eindruck von etwas Weißem, Fleischigem mit einem großen Kopf wie von einem Zwotter, aber mit einer wuscheligen Haarpracht. Und das Kind hatte die Augen offen! Es waren große Augen, mit zwingendem Blick.
Der eine Zwotter nahm ihr das Bündel ab. Sie war dankbar dafür.
„Vorbehalten aber zurückbleiben?" sang der andere. „Vorbleiben wenn zurückbehalten?"
„Ja, ja, behaltet es", rief Virna erleichtert. Sie war sicher, daß es das Beste für sie und das Kind war, wenn es von den Zwottern großgezogen würde. „Das Kind gehört euch, ich will es nicht."
Sie empfand dabei jedenfalls keine Gewissensbisse. Es war im Grunde genommen nicht ihr Kind, sie hatte es nur ausgetragen.
Blinizzer erwartete sie am Ende der Schlucht mit dem Geländewagen. Sie fuhren schweigend zur Oase. Auf dem Landefeld stand neben Harzel-Kolds Raumschiff ein zwei-tes.
Dann tauchte Galinorg auf.
„Ich dachte, ich schaue mal vorbei, wie es Ihnen geht."
„Sie kommen wie gerufen", rief sie erfreut und fiel ihm förmlich um den Hals. „Bringen Sie mich nach Gäa zurück. Ich muß das alles hier vergessen. Galinorg, Sie schickt..."
Sie brach abrupt ab, fügte nachdenklich hinzu: „Vielleicht wurden sie tatsächlich gerufen. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Hauptsache, Sie nehmen mich mit."
Zwischenspiel: Januar 3586 „Wie kommt es, daß du so gut über die Geschehnisse von damals Bescheid weißt?" fragt die Ambientepsychologin. „Du erwähnst Details, die nur beteiligte Personen wissen können, sprichst über Gefühle und Beweggründe anderer wie über deine eigenen. Ich habe den Verdacht, daß du deine Erzählung damit nur ausschmücken willst."
„Als Psychologin solltest du erkannt haben, daß ich nicht zu den Geltungsbedürftigen gehöre", antwortet der Mann. „Im Gegenteil, ich habe mich immer im Hintergrund gehalten."
„Woher hast du dann deine Kenntnisse?"
„War ich nicht einer der Beteiligten?"
„Du warst ungeboren."
„Was macht das schon. Virna Marloy jedenfalls hatte von dem Augenblick an, da ich die ersten Lebenszeichen von mir gab, das Gefühl, daß ich sie beeinflusse. Sie blieb auch in späteren Jahren dabei, und ich bin geneigt, ihr zu glauben, obwohl ich an meine embryo-nale Phase keine lückenlose Erinnerung habe. Es liegt alles in einem Nebel.
Das meiste, was ich über Virna Marloy weiß, hat sie mir selbst erzählt. Nicht so zusammenhängend, wie ich es wiedergegeben habe,
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