0859 - Höllenliebe
Nacht starb noch jemand.« Suko warf mir einen Blick zu, und ich holte das Foto aus der Brieftasche. Ich stand auf und reichte es dem Mann im Rollstuhl über den Schreibtisch hinweg. »Wir wissen nicht, wie der Mann hieß, der auf so schreckliche Art getötet wurde, viel-. leicht kennen Sie seinen Namen.«
Die Hände des Bischofs zitterten etwas, als er das Foto entgegennahm. Ich hatte ihn zuvor warnen wollen, er war zu schnell und schaute sofort hin. Sein Gesicht wurde noch bleicher, dann schluckte er einige Male und nickte.
»Sie wissen Bescheid?« fragte ich.
Er legte das Foto zur Seite. »Ja, ich erkenne den Mann, auch wenn sein Gesicht entstellt ist.« Er schlug ein Kreuzzeichen. »Es ist Malcolm Worriner, ein guter Mann, der auch schon in der Mission gearbeitet hat. Er war ein Bruder, der stets den Glauben verteidigt hat und sich gegen das Böse in der Welt stemmte. Sehr intelligent, allem aufgeschlossen. So hat er immer versucht, hinter die Kulissen zu schauen.«
»Hinter die Kulissen«, wiederholte ich, »können Sie da etwas deutlicher werden?«
»Wenn Sie wollen, gern. Er war nicht nur ein Pragmatiker, er forschte auch. In seiner knappen Freizeit beschäftigte er sich mit religiöser Mystik. In Fachzeitschriften hat er auch zahlreiche Aufsätze verfaßt. Erst vor einigen Tagen ist der letzte von ihm erschienen. Leider habe ich ihn noch nicht gelesen.«
»Würde er uns denn weiterbringen?« fragte ich.
»Ich weiß es nicht, aber ich habe die Zeitschrift greifbar. Moment bitte, meine Herren.«
Der Bischof rollte zurück, bis er das hinter ihm hochwachsende Regal erreicht hatte. Auf einer bestimmten und für ihn erreichbaren Ebene standen zwar auch Bücher, es war allerdings ein Fach vorhanden, in dem der Bischof wichtige Zeitschriften und schmale Akten aufbewahrte. Lange brauchte er nicht zu suchen. Unter drei Zeitungen versteckt lag ein schmales Heft in einem grauen Umschlag. Der Bischof hielt es hoch. »Das ist die Ausgabe.«
Wir nahmen sie dankend entgegen und rückten näher zusammen, damit wir es gleichzeitig lesen konnten.
Die Broschüre hatte auch einen Serientitel. Er hieß Glaube in unserer Zeit, und der Inhalt bestand aus einigen Aufsätzen. Die meisten von anglikanischen Priestern geschrieben, doch es gab auch Gastkommentatoren, die sich verewigt hatten.
Dazu gehörte auch Malcolm Worriner. Wir fanden seinen Aufsatz als den letzten in der Broschüre.
Laut las ich den Titel vor und schaute den pensionierten Bischof dabei an. »Abtrünnige Engel gibt's die?«
Morgan lächelte. »Bitte, Mr. Sinclair, das dürfen Sie mich nicht fragen. Ich kann Ihnen da leider keine Antwort geben, denn ich habe den Bericht noch nicht gelesen.«
Ich blätterte weiter. »Er ist sechs Seiten lang.«
»Na und? Wir haben Zeit. Zumindest ich habe gelernt, wie es ist, Zeit zu haben. Hier leben Sie wie auf einer Insel. Wer von uns nicht verheiratet war oder Witwer ist, für den sorgt die Kirche. Ich muß sagen, es ist wunderbar. Zudem gibt es immer wieder junge Leute, die sich in den Dienst der Sache stellen und uns hier behilflich, sind. Es läßt sich hier durchaus aushalten. Man hat zudem Zeit, sich mit den Dingen des Lebens zu beschäftigen und Rückschau zu halten.«
»Das hat wohl Malcolm Worriner auch getan, denke ich.«
»Auf seine Weise, Inspektor Suko. Aber lassen Sie sich durch meine Anwesenheit nicht stören. Lesen Sie in aller Ruhe, aber erzählen Sie mir später, was sie gelesen haben.«
»Natürlich.«
Wir vertieften uns in den Artikel, und schon nach den ersten Sätzen hatten wir beide das Gefühl, in die Welt des Schreibers einzutauchen, so deutlich hatte er seine Forschungen und Gedanken über ein bestimmtes Thema niedergeschrieben…
***
Der größte Teil der Strecke lag hinter dem Abbé. Auch eine lange Nacht, die er und sein Begleiter, der junge Bruder Pierre, in dem Schlafwagenabteil verbracht hatten. Sie hatten dabei nicht gemerkt, daß sie durch das Land der Gallier gerollt waren. In den Morgenstunden waren sie wach geworden, und als sie aus dem Fenster schauten, da floß bereits die urwüchsige Landschaft der Normandie draußen vorbei, eingetaucht in das Licht der aufgehenden Sonne.
»Ist es nicht herrlich, Pierre, dieses Licht und auch die Landschaft sehen zu können?«
»Fürwahr, Abbé, das ist es.«
Der weißhaarige Templer-Führer lächelte in sich hinein. »Ich kann dir nicht sagen, wie dankbar ich dir bin, daß ich mein Augenlicht zurückgefunden habe. Es war einfach
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