086 - Das Grab des Vampirs
Eine Fledermaus strich dicht über ihn hinweg und flatterte um ihn herum. Die Turmuhr des Schlosses verkündete, daß es Mitternacht war.
Schon aus mehreren Metern Entfernung erkannte Runge, daß er Ira gefunden hatte. Das Mädchen lag regungslos auf dem Boden. Ihre Beine und ihr Oberkörper waren entblößt, und das blonde Haar ringelte sich um ihren Hals. Ihre Haltung erinnerte ihn an das Mädchen, dem die Kehle zerfetzt worden war. Er schluckte krampfhaft, näherte sich ihr ängstlich und kniete neben ihr nieder.
In diesem Moment schlug sie die Augen auf und blickte ihn verwirrt an. Behutsam bedeckte er ihre jungen Brüste mit dem Cape.
„Was ist geschehen, Ira?“ fragte er.
Sie richtete sich stöhnend auf, hielt mit der linken das Cape fest und legte die rechte Hand an die Stirn.
„Ich – weiß – nicht“, entgegnete sie stockend und zog den Rock über ihre Knie.
„Hat er dir etwas getan?“
„Wer? Was? Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Mir ist schlecht geworden. Das ist alles.“
„Jemand hat versucht, dir die Kleider vom Leib zu reißen.“
„Das bin ich vielleicht selbst gewesen, als ich mir Luft machen wollte. Ich weiß es nicht.“
„Wie du willst.“
„Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt, Didi! Ich weiß es doch wirklich nicht.“
„Schon gut.“
Er erhob sich und half ihr auf. Er wußte, daß sie nicht die Wahrheit sagte.
„Ein bemerkenswerter Kavalier, der dich allein läßt, nachdem du umgekippt bist. Dabei streift hier im Park ein Strolch herum, der einem wirklich Angst einjagen kann.“
„Es gibt keinen Kavalier, der mich allein gelassen hat“, antwortete sie heftig. „Ich war allein. Ich wollte noch etwas Luft schnappen und bin deshalb im Park spazierengegangen.“
„Zur Geisterstunde? Wo doch angeblich Vampire hier nachts herumschleichen und junge Mädchen anfallen, um ihnen das Blut aus den Adern zu saugen?“
„Du weißt, daß es keine Vampire gibt.“
„Allerdings. Dafür gibt es aber einen geistesgestörten Mörder, der kleinen Mädchen die Kehle durchbeißt.“
„Du hast ja recht. Es war leichtsinnig von mir, allein in den Park zu gehen.“
„Du hättest mich beispielsweise fragen können, ob ich dich begleiten will.“
„Das hättest du mit Sicherheit falsch verstanden.“
„Mit dir kann man ja nicht reden.“
Er ließ das Mädchen stehen und legte die letzten Schritte bis zum Portal allein zurück. Ira tat es leid, daß sie sich so dumm benommen hatte, aber sie brachte es nicht fertig, Runge zurückzurufen. Irgend etwas verschloß ihr die Lippen. Sie war selbst darüber betroffen, daß der Comte de Rochelles sie ohnmächtig und halbnackt unter den Zypressen zurückgelassen hatte. Sie suchte nach Entschuldigungen für ihn und redete sich ein, daß er vielleicht ins Schloß geeilt war, um Hilfe für sie zu holen. Vielleicht hatte er auch jenen Unbekannten verfolgt, der sie zuvor erschreckt hatte. Vielleicht aber war ihm etwas passiert?
Sie kehrte in ihr Zimmer zurück. Dabei bemerkte sie nicht, daß sich Runge noch in der Halle vor dem Portal aufhielt und sie beobachtete. Er wartete, bis ihre Tür zugefallen war und er gehört hatte, wie der Schlüssel sich im Schloß drehte. Dann erst ging auch er die Treppe hinauf.
Doch auf halben Weg blieb er abermals stehen. Er vernahm leise Schritte, die von oben herabkamen.
Lautlos schlich er weiter bis zum nächsten Treppenhaus. Von hier aus konnte er die Tür zu Iras Zimmer sehen. Der Unbekannte über ihm räusperte sich leise, dann glitt er in sein Blickfeld.
Es war der Comte Maurice de Rochelles. Das bleiche Gesicht war deutlich zu sehen. Es sah streng und kalt aus. Hochaufgerichtet ging er auf die Tür zu Iras Zimmer zu. Er neigte den Kopf ein wenig, dann aber trat er zur Seite.
Dietmar Runge schlich einige Stufen weiter hoch, bis er den Comte wieder sehen konnte. De Rochelles öffnete die Tür zu dem Zimmer der kleinen June. Er blieb in der Tür stehen und betrachtete das Mädchen, das unbekleidet auf dem Bett lag, dann zog er die Tür leise hinter sich zu.
Runge atmete tief durch. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte angenommen, daß der Comte sich für Ira interessiert; daß er der Geliebte Junes war, überraschte ihn, denn er hatte das Mädchen am Tisch keineswegs so behandelt, als ob er ihre Liebe erwidern würde. Runge nahm an, daß der Comte wahrscheinlich nur die Eltern Junes hatte ablenken wollen. Er war erleichtert, da er voraussetzte, daß der Comte Ira nun in Ruhe lassen
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