0867 - Emily
die Kranke irgendwann einmal gelesen hatte.
»Aber Sie sehen schon, daß dieses Mädchen sehr begabt ist. Sie würde als Zeichnerin sofort einen gutbezahlten Job bekommen, denke ich. Und das könnte später auch ihre Zukunft sein, wenn sie entlassen ist.«
»Wann wird sie denn entlassen?« fragte Shao.
»Da haben wir noch keinen genauen Zeitpunkt festgelegt«, erklärte der Arzt. »Wir ließen es offen. Das kann fünf Jahre dauern, aber auch zehn. Es kommt einzig und allein auf die Fortschritte an, die Emily macht.« Er hob die Zeichnung wieder an und ließ sie verschwinden.
Suko und ich waren nachdenklich geworden. Mein Freund gab Shao eine kurze Erklärung, während ich gedankenversunken aus dem Fenster schaute. Urplötzlich hatte der Fall eine völlig neue Dimension bekommen, und wir mußten zugeben, daß wir genau das Richtige getan hatten. Es war eine Sache, die uns etwas anging. Wir waren richtig, und wir würden möglicherweise über Zebulon an das Mädchen herankommen. Wichtig war zunächst einmal, daß wir sie kennenlernten.
Ich hatte während meiner Gedanken aus dem Fenster geschaut und in den Garten gesehen. Er hatte parkähnliche Ausmaße, wirkte aber nicht besonders gepflegt. Man ließ die Natur wachsen, sie breitete sich aus, man griff nur behutsam hinein, und das empfand ich als positiv. Wege durchzogen den Garten wie schmale Adern, aber immer wieder verschwanden sie im Schatten der hohen Bäume oder zwischen dichtem Strauchwerk.
Ich drehte mich um. Das lächelnde Gesicht des Arztes schaute mich an. »Ich weiß genau, was Sie jetzt denken, Monsieur Sinclair.«
»Was denn?«
»Sie möchten Emily sehen.«
»Ja, das hatte ich vor. Ich spreche damit auch im Namen meiner Freunde.«
»Verstehe.«
»Können wir denn einfach hingehen?« erkundigte sich Shao.
Der Arzt zeigte ein Lächeln. »Keine Sorge, das können wir. Und sie werden überrascht sein, wenn sie Emily sehen. Vor Ihnen wird keine kleine Hexe stehen, keine dämonisches Etwas, wie auch immer man es nennen soll. Sie werden in das Gesicht eines Menschen schauen, der nicht genau weiß, ob er Kind oder Teenager ist. Ich denke schon, daß Ihnen Emily ganz offen begegnen wird.«
»Dann nichts wie hin.«
»Ja, gehen wir.«
Es war ein relativ weiter Weg, den wir zurückzulegen hatten, denn Emily war in einem anderen Trakt untergebracht worden. Wir lernten zumindest die Flure dieses Hauses kennen, und ich konnte nicht eben behaupten, daß sie mir gefielen.
Es lag auch an der sterilen Sauberkeit. Da war kein Stäubchen auf dem Boden zu sehen, auch die Fenster wirkten blank wie Spiegel, kein Wunder, hier wurde permanent unter Aufsicht geputzt. Es waren drei Patientinnen, die das übernommen hatten, die ihre Freude daran durch fröhliches Singen und Pfeifen zum Ausdruck brachten und dem Arzt, wenn sie ihn sahen, ein Lächeln schenkten.
Zwar gab es Frauen, die wachten, bei den Putzfrauen brauchten sie jedoch nicht einzugreifen. Sie wollten nur ab und zu Lob gespendet bekommen, was sie auch bekamen.
Dr. Prudomme lächelte, als er unsere Gesichter sah. »Auch das gehört seltsamerweise zu einer Therapie. Die Patientinnen fühlen sich tatsächlich glücklich.«
»Stimmt, wir merkten es.«
Der andere Trakt lag im alten Teil des Hauses. Hier waren die Flure enger, die Türen dicker, und hier hatte man die schweren, beinahe schon hoffnungslosen Fälle untergebracht. Hinter manchen Türen herrschte Unruhe. Wir widerstanden der Versuchung, durch die Gucklöcher zu schauen und konzentrierten uns auf Emily.
»Die haben wir in einem besonderen Zimmer untergebracht«, erklärte der Arzt.
»Ist es sehr schlimm?« flüsterte Shao.
Dr. Prudomme lachte. »Nein, Madame, auf keinen Fall. Eher das Gegenteil. Früher einmal wurde der Raum von meinem Assistenten bewohnt. Es gibt darin sogar ein Bad. Nur kann sie das Fenster nicht öffnen. Wir wollen nicht, daß sie klammheimlich verschwindet.«
»Und sie fürchten nicht, daß sich die Patientin umbringt?« hakte Shao nach.
»Auf keinen Fall. Soviel ich herausgefunden habe, ist sie weder schwermütig noch depressiv. Wenn Sie mit ihr reden, werden Sie das Gefühl haben, vor einem gesunden Menschen zu stehen.«
»Wir sind gespannt.«
»Sollen Sie auch sein.« Prudomme hatte bereits einen flachen Schlüssel hervorgeholt. Wir standen vor einer weißlackierten Tür, die schon einen Stich ins Gelbe bekommen hatte. Der Arzt schloß die Tür auf, ließ uns noch nicht eintreten, sondern ging erst einmal allein in
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