0867 - Emily
wie abgerissene Schnipsel aus irgendeinem Comic.
Emily bemühte sich, die Bilder zu ordnen. Sie wollte System hineinbekommen, denn sie wußte genau, daß ihr diese Visionen etwas sagen wollten. Es klappte nicht, und deshalb öffnete sie die Augen wieder und schaute auf ihre Zeichnung.
Ja, sie war gut. Sie konnte stolz auf sich sein. Sie würde es genießen, und sie würde dabei zuschauen können, wenn dieses herrliche Bild zu dem werden würde, was sie sich ausgedacht hatte.
Nein, es war nicht top!
Emily quälte sich herum. Ihre Gedanken drehten Kreise, die einen Mittelpunkt besaßen, in dem sie die Lösung sah.
Die Frau brauchte eine Waffe!
Waffe! Waffe - sirrte es durch ihren Kopf. Sie brauchte eine Waffe, eine besondere Waffe, ein…
Welche denn?
Gewehr, Pistole, ein Messer, eine Heckenschere, bei dem Gedanken lachte sie auf, eine Axt, ein Beil… ein Beil… Beil… Beil…
Ja, das war es.
Sie brauchte ein Beil.
Wieder lachte sie, und ihre Augen bekamen einen gefährlichen Glanz. Die Waffe hatte sie jetzt gefunden, aber sie gab zu, daß sie ihr nicht so geläufig war.
Wie sah ein Beil aus?
Sie überlegte. Stellte sich vor, wie sie durch die Küche gelaufen war und Schubladen aufgezogen hatte. Messer hatte sie gesehen, Gabeln auch, Löffel ebenfalls, aber Beile?
Daran konnte sie sich nicht erinnern. Ihre Mutter hatte kein Beil in der Küche gehabt.
Und doch kannte sie es.
Der Fleischer fiel ihr ein.
Jaaaa! Der Gedanke war wie ein Jubelschrei. Einige Male hatte sie ihre Mutter beim Einkauf begleitet, und sie hatte gesehen, wie der Fleischer mit einem ziemlich kleinen, aber sehr scharfen Beil Fleisch und Knochen zertrümmert hatte.
Wieder schloß sie die Augen.
Diesmal huschten keine Bildfetzen vorbei. Sie war in der Lage, sich auf das Beil zu konzentrieren.
Sie mußte es sich genau vorstellen können, es zu zeichnen.
Ja, es würde klappen. Sie hatte es im Blick. Den Griff zuerst, auch das blanke Metall, das an seiner Unterseite so höllisch scharf geschliffen war.
Wenn es durch Fleischknochen hieb, dann würde es auch den Kopf eines Menschen zertrümmern können.
Emily beugte sich vor. Sie war zu einem kleinen Satan geworden, als sie nach dem Stift griff. Noch einmal fuhr die Zunge aus dem Mund und zeichnete die Lippen nach.
Ihre Augen leuchteten wie kleine, böse und sehr kalte Kugeln.
Die rechte oder die linke Hand?
Sie nahm die rechte.
Sie wischte etwas von der ursprünglichen Haltung weg, denn die Finger brauchen eine gewisse Krümmung, um das Beil überhaupt richtig halten zu können.
Emily zeichnete den Griff.
Sie schob ihn der Figur in die Hand, und dann ging es weiter. Das Metall, das sie schraffierte, die blanke und höllisch scharfe Schneide, in deren Nähe sie sogar Reflexe zeichnete.
Es klappte gut.
Es war wunderbar.
Fertig!
Sie lachte, lehnte sich nach hinten. Sie konzentrierte sich auf den gewaltigen Strom, der von ihrem Kopf ausging. Sekundenlang hatte sie den Eindruck, zerstört zu werden, aber sie schaffte es, sitzen zu bleiben, und sie drückte ihren Oberkörper wieder nach vorn, während sie die Augen öffnete.
Schnipp… schnipp… schnipp… Da war es wieder dieses schrille Mordgeräusch!
Aber es gab noch mehr. Als sie auf das Blatt schaute, war die Zeichnung nicht mehr da.
Spurlos verschwunden…
***
»Shao!«
Sukos Ruf glich einem Schrei. Die Befürchtung, eine Tote festzuhalten, schwang darin mit, aber das Allerschlimmste trat nicht ein, denn auch ich hörte das leise, röchelnde Atmen der Chinesin. Sie lebte, aber sie war völlig von der Rolle. Man hatte ihr etwas genommen. Als Shao ihre Arme bewegte, da sah es so aus, als würden sie jeden Augenblick zu Boden fallen.
Das geschah glücklicherweise nicht. Shao blieb »ganz«.
Daß Suko auf der Bank saß und sich auch weiterhin um Shao kümmerte, konnte ich verstehen, aber ich wollte es nicht. Ich mußte etwas tun und würde es auch.
Zunächst ließ ich meinen Blick durch den Garten schweifen, um herauszufinden, ob sich dort etwas verändert hatte. Es war nichts zu sehen, der Garten blieb so, wie ich ihn kannte. Hin und wieder lenkte mich Shaos Röcheln ab.
Baumkronen malten dunkle Muster auf den Boden, hin und wieder zwitscherte ein Vogel. Der Himmel ähnelte einer Dunstglocke. Ein Gewitter lag in der Luft, denn es war noch schwüler geworden und zugleich auch stiller.
Sukos Gesicht zeigte Verzweiflung, auch wenn er versuchte, seine Gefühle zurückzudrängen. Er schaffte es nicht ganz. Ich erriet
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