0867 - Emily
Frage stellen, doch Suko schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, laß uns nach draußen gehen…«
Ich war einverstanden.
***
Die Tür war wieder zugefallen. Wie das kleine Tor einer Gruft. Einfach so. Stille breitete sich aus.
Aber es war trotzdem keine Gruft, denn in einer Gruft hätte sich Emily nicht so wohl fühlen können wie in ihrem Zimmer, dem kleinen Reich, das ihr allein gehörte. Bis jetzt zumindest, aber dieser Besuch hatte diese wunderbare Ruhe doch empfindlich gestört. Sie kam damit überhaupt nicht mehr zurecht. Da war etwas geschehen, das sie gestört hatte. Es hatte ihr keine guten Gefühle gebracht, das Gegenteil war eingetreten. Sie fühlte sich davon auf eine gewisse Art und Weise bedroht, und sie tastete mit beiden Händen über ihren Körper, weil sie den Eindruck hatte, daß sich etwas von innen in ihm ausbreitete, ähnlich wie kalter Schlamm.
Es ging ihr nicht gut.
Sie hockte auf ihrem Stuhl, stierte ins Leere und über das Blatt mit der angefangenen Zeichnung hinweg. Die Schwingungen waren schlecht. Dieser Mann, der schließlich mit ihr gesprochen hatte, der hatte etwas Besonderes an sich gehabt, das sie störte.
Sie war längst nicht mehr so ruhig und konzentriert, wie sie hätte sein müssen.
Sie war frustriert.
Ja, echt frustriert. Sie kam nicht mehr weiter, sie blieb frustriert, und die Frustration erzeugte Haß.
Dieser Haß aber war nicht gut, weil er letztendlich in noch etwas Schlimmeres hineinmündete, in die blanke Gewalt.
Gewalt bedeutete für sie Tod. Bedeutete Blut, Schmerzen, bedeutete auch Schreie.
Sie hatte lange nichts mehr direkt mit der Gewalt zu tun gehabt. Sie hatte sie nur steuern können, aber als Person war sie davon nicht betroffen gewesen.
Von nun an sah alles anders aus.
Sie griff nach irgendeinem Stift. Sie brauchte jetzt etwas, um sich abzureagieren. Ein Knurren drang aus ihrem in die Breite gezogenen Mund, als sie den Farbstift zerbrach. Es hörte sich an, als würden Knochen knacken, und sie stellte sich dabei vor, daß es die Knochen ihrer Feinde waren.
Beide Stifthälften schleuderte Emily quer durch das Zimmer. Dann erhob sie sich mit einem Ruck.
Viel größer wurde sie nicht. Emily war das, was allgemein als eine Sitzgröße bezeichnet wurde. Sie hatte einen sehr kurzen Oberkörper, aber auch kurze Beine. Deshalb wirkte sie immer etwas plump, aber auch puppenhaft.
Zu kurze Beine, zu kleine Füße, zu kurze Arme, alles war etwas zu dick, und sie erinnerte sich wieder daran, mit welchen Augen sie die anderen Heimkinder angeschaut hatten.
Zuerst staunend, als könnten sie nicht glauben, was sie da vor sich sahen. Dann aber hatten sie gelacht. So verdammt laut gelacht, und dieses Lachen hatte eigentlich nie aufgehört. Es war geblieben, all die Tage und auch die Nächte.
Ausgelacht worden war sie.
Sie hatte dies schlimmer empfunden als Schläge. Und sie wollte nicht mehr ausgelacht werden, nie mehr. Wer sie jetzt noch auslachte, der würde von ihr…
Schnipp… schnipp… schnipp…
Das hohe, sägende und schrille Geräusch schnitt durch ihren Schädel, und Emilys Gesicht verzog sich, als hätte sie auf Scherben gebissen. Sie war wütend, frustriert, der Haß würde automatisch kommen und sie überschwemmen.
Danach die Gewalt…
Plötzlich sehnte sie sich nach der Gewalt. Gewalt machte sie für den Augenblick frei, dann fühlte sie sich so ungemein stark, so herrlich und wunderbar.
Sie himmelte dieses Gefühl an, und sie wollte es unbedingt zurückhaben.
Mit hastigen Schritten rannte sie ins Bad, wo sie kaltes Wasser in das Becken fließen ließ. Emily schaute dem Strahl für einen Moment zu, bevor sie Wasser in ihre zusammengelegten Hände strömen ließ und es gegen ihr Gesicht schleuderte.
Die Abkühlung tat ihr gut.
Sie schaute hoch.
Im Spiegel sah sie ihr Gesicht.
Komisch, sie selbst fand sich nicht so häßlich. Sie fand sich sogar ausgesprochen nett. Besonders in diesem Moment, wo sich der Ausdruck in den Augen verändert hatte. Sie waren sehr glatt geworden, beinahe wie Spiegel, doch hinter diesen beiden Spiegeln lag etwas, mit dem sie persönlich nicht zurechtkam, das aber durchaus vorhanden war, und sie freute sich eigentlich, daß es dieses Etwas gab.
Vielleicht war es ihre zweite Gestalt, ihr anderes Ich, das ihr eine tolle Begabung übermittelt hatte.
Emily nickte sich zu.
Es war alles okay. Sie würde das Bad verlassen, sie würde sich wieder an den Tisch setzen und zum dunklen Stift greifen. Mit dem Finger wischte
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