087 - Der sentimentale Mr. Simpson
nachdachte.
Mr. Cheynes Büro befand sich in der City von London, nahe Aldermanbury. Sein Personal bestand aus einer jungen Dame, die mit zwei Fingern ihre Briefe tippte und sich mit einem Minimum an Intelligenz durchs Leben schlug. Als er läutete, kam sie ins Zimmer. Sie trug einen enganliegenden, dünnen Pullover und eine auffällige Halskette.
»Mr. Mortlake wartet schon seit einer halben Stunde«, sagte sie leise. In den zwei Jahren bei Cheyne hatte sie wenigstens gelernt, daß man nicht brüllt.
»Führen Sie ihn herein, Clarissa.«
Er war guter Laune. Sie lächelte und schüttelte mißbilligend den Kopf, denn sie hieß Annie.
Ein adrett gekleideter, kleiner Mann mit massivem Schädel und bleichem Gesicht betrat auf Zehenspitzen das Zimmer, die Melone in der Hand. Er setzte sich auf den Stuhl vor Cheynes Schreibtisch und legte seinen Hut auf den Boden.
»Gibt es etwas Neues -?« Er neigte den Kopf fragend zur Seite.
»Nichts, Mr. Mortlake.«
Mr. Cheyne hatte die Post bereits durchgesehen. Kein Umschlag trug den Poststempel ›Melton Mowbray‹.
»Ah - sie wird schon schreiben. Lady Alice ist sehr eigensinnig, aber sie wird es nicht wagen ... Das glauben Sie doch auch?«
Mr. Cheyne zuckte die Achseln. »Sie kennen Mylady am besten«, meinte er. »Ich mache mir eigentlich Sorgen - ja, es tut mir fast leid, daß ich mich dazu bereitgefunden habe, Ihre Interessen zu vertreten. Der Fall ist äußerst merkwürdig. Er riecht beinahe nach Erpressung.«
In Mr. Cheynes Beziehungen zu seinen ungenannten Klienten kam stets der Augenblick, da er offen erklärte, er bedauere es, den Fall übernommen zu haben, der doch praktisch auf Erpressung hinauslaufe. Trotzdem machte er weiter bis zum bitteren Ende, um genau zu sein, bis ein Scheck oder ein versiegeltes Päckchen mit Banknoten es ihm erlaubten, die Angelegenheit abzuschließen.
Manchmal gab es unerquickliche Auseinandersetzungen. Einige Klienten beschwerten sich über ihren geringen Profit.
Da war der Diener Sir Arthur Keverlings gewesen. Er hatte ein Bündel Briefe von der jungen Frau des Kommandeurs gefunden. Dann Millie Winston mit dem indiskreten Tagebuch ihrer Lady; und der Bruder von Fay Lanseer, dem fünftausend Pfund als magerer Anteil an den siebzigtausend Pfund vorkamen, die Lord Charholm bezahlt hatte, damit seine Briefe nicht vor Gericht verlesen wurden. Aber sie alle hatten dankend auf die von Mr. Cheyne aufgezeigte Alternative verzichtet - Geld und Dokumente mit einem Schreiben zurückzugeben, in dem Mr. Cheyne entsetzt und bedrückt erklärte, nichtsahnend Erpressern Vorschub geleistet zu haben.
Mortlake jedenfalls erschrak. »Ich verstehe gar nicht, wie Sie so etwas sagen können, Mr. Cheyne. Als ich das erstemal bei Ihnen war, rieten Sie mir doch, sie auf Schadenersatz und Rückgabe eines Darlehens zu verklagen, nachdem man mich fristlos hinausgeworfen hatte!«
Was auch stimmte.
Mr. Cheyne war ein Erpresser, aber auf die vornehme Art. Er konnte sehr wohl die Rückgabe angeblicher Darlehen einklagen: das gehört zum Beruf eines Anwalts. Er konnte kompromittierende Dokumente bei sich aufbewahren, als Beweis für die Vertrauenswürdigkeit seiner Klienten. Denn wer händigte schließlich solche Briefe seinem Dienstpersonal zur sicheren Aufbewahrung aus, wenn er mit ihm nicht auf derart vertrautem Fuß stand, daß sehr wohl auch das Darlehen verlangt und zugestanden worden war? Und wenn die Opfer der ungenannten Klienten erklärten, die Briefe seien gestohlen worden, mußte man das als schwerste Anschuldigung werten; Mr. Cheyne pflegte dann jedenfalls sofortige Strafanzeige gegen den räuberischen Diener vorzuschlagen.
»Sie sind vor sechs Wochen aus den Diensten von Lady Alice geschieden - waren Sie lange bei ihr tätig?«
»Achtzehn Monate«, erwiderte Mr. Mortlake. »Seine Lordschaft hat mich kurz nach seiner Hochzeit eingestellt. Ich muß sagen, daß Lady Alice noch erträglich ist. Mit ihm aber kann man überhaupt nicht auskommen.«
»Eifersüchtig?«
»Und wie!« meinte Mr. Mortlake lächelnd. »So lange jedenfalls, bis er sich mit Miss Wenbury einließ. Er würde für eine Scheidung alles geben, und das weiß Mylady auch. Man muß sich vor ihm in acht nehmen ...«
Er erklärte im einzelnen, warum und wieso, und Mr. Cheyne lauschte. Er war keineswegs empfindlich.
»Mit den Briefen könnte er die Scheidung durchsetzen - die Fotografie ist wertlos. Wir brauchen mehr. Ich frage mich .«
Er runzelte die Stirn.
Lois Martin konnte bei
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