087 - Der sentimentale Mr. Simpson
entsprechender Aufmachung sehr wohl als Lady Alice figurieren - er war sich nur noch nicht im klaren darüber, wie sich die Ähnlichkeit nutzen ließ.
»Also gut - morgen brauchen Sie nicht zu kommen. Sagen wir Freitag, oder noch besser, nächsten Montag.« Annie führte Mr. Mortlake hinaus. Mr. Cheyne schrieb eigenhändig einen Brief.
›Betrifft: Sie und einen ungenannten Klienten.
Mylady, wir sind überrascht, auf unser Schreiben vom 13. ds. Mts. noch keine Antwort erhalten zu haben. Sicherlich werden Sie unser Bestreben, Ihnen unnötige Sorgen und Auslagen zu ersparen, zu würdigen wissen. Wir haben auch nicht die Absicht, den Namen unseres Klienten zu nennen, da Ihnen das eine finanzielle Transaktion schmerzlich ins Gedächtnis rufen müßte, die sich mit Ihrer Würde wohl nicht vereinbaren läßt. Wir wiederholen kurz die Grundlagen unserer Forderung: Im vergangenen Oktober liehen Sie sich bei unserem Klienten die Summe von fünfzigtausend Pfund, wofür Sie ihm als Sicherheit gewisse Briefe überließen, die zwischen Ihnen und Captain John Basterby gewechselt worden waren. Ihre Feststellung im Brief vom 3., unser Klient habe die Briefe gestohlen, muß als schwere Anschuldigung gewertet werden. Unter den gegebenen Umständen müssen wir Sie auffordern, gegen unseren Klienten wegen des behaupteten Diebstahls Strafanzeige zu erstatten. Was die Erklärung betrifft, er habe niemals fünfzigtausend Pfund besessen, dürfen wir auf die Versicherung unseres Klienten verweisen, es sei ihm eine größere Erbschaft von einem Onkel in Amerika zugefallen. Wir sehen uns genötigt, Sie nochmals um Nennung Ihres Anwalts zu bitten, mit dem der weitere Schriftwechsel geführt werden kann.‹
Sehr korrekt. Unangreifbar. Er trocknete das Blatt mit dem Löscher und übergab es seiner Stenotypistin zur Abschrift:
Zwei Tage später erschien Lois Martin am Abend in seiner Wohnung. Mr. Cheyne öffnete selbst die Tür.
»Macht es Ihnen etwas aus, kalt zu essen? Mein Personal hat Grippe. Hoffentlich ängstigt Sie das nicht.« Sie lächelte. »Nicht im geringsten«, meinte sie.
Er hatte befürchtet, sie würde im Abendkleid kommen - im Schlußverkaufabendkleid, versteht sich. Aber sie trug nur ein helles Kleid und neue Schuhe. »Ich habe sehr viel über Sie nachgedacht«, erklärte er. »Und -?«
»Nun - diese Hast ins Büro, eingepfercht zwischen den vielen Leuten, die Eintönigkeit und so weiter. Sie passen da nicht hinein. Wieviel verdienen Sie pro Woche?«
Sie nannte eine Summe, während er ihr den Mantel abnahm. - »Lächerlich!« erregte er sich.
Er warf den Mantel aufs Sofa und führte sie zum Kamin. Als er den Arm um sie legte, zuckte sie nicht einmal zusammen. Sie hob den Kopf und sah in lächelnd an.
»Wir kommen einander immer näher«, sagte sie.
»Stört Sie das?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist sehr leicht, sich verwöhnen zu lassen.«
Er küßte sie, und nach ein paar Sekunden machte sie sich los.
»Sagen Sie, arbeiten Sie eigentlich im Temple?«
»Nein - in der City. Ich habe ein kleines Büro in der Nähe der Queen Victoria Street.«
Sie verzog den Mund. »Wie uninteressant! Ich dachte eigentlich, Sie wären Strafverteidiger. Bei uns bearbeitet man auch nur langweilige Fälle. Sie arbeiten hier in Ihrer Wohnung auch sehr viel, nicht wahr?«
Sie berührte den Griff des grünen Wandsafes.
»Merkwürdig. Er paßt gar nicht zu den Möbeln, und Sie haben doch so guten Geschmack.«
»Wir wollen jetzt essen«, meinte er strahlend. Für Schmeicheleien war er stets empfänglich.
Er füllte die Weingläser und sagte, nachdem sie getrunken hatte, voll Übermut: »Ich werde Sie reich machen.«
Sie lachte. »Das klingt verlockend«, meinte sie, und er gab ihr recht. Frauen lieben das Direkte, sagte er sich. Er wußte Bescheid. Allzu große Vorsicht hemmt den Fortschritt. Er drückte sich trotzdem geschickt aus, und sie lauschte ohne Protest.
»Das kann ich nicht ... Ich glaube, das geht nicht. In unserem Heim muß man um zwölf Uhr zu Hause sein. Und ... nein!«
Aber man beschloß, ihre Sachen am nächsten Tag abholen zu lassen.
»Reden wir von etwas anderem. Wo ist das Bild der schönen Frau, der ich ähnlich sehe? Wer ist es nun wirklich?«
Er füllte erneut die Gläser.
»Sie ist die Beklagte in einem Rechtsstreit, den ich für einen - ungenannten Klienten führe.«
Sie bat ihn, das Bild noch einmal zu zeigen.
»Ein paar kleine Veränderungen, und du wärst ihr Ebenbild«, meinte er, als er aus
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