087 - Der sentimentale Mr. Simpson
erwiderte sie lächelnd.
»Und wie viele davon haben Sie angenommen?« fragte er rundheraus.
Sie schüttelte den Kopf.
»Das habe ich mir schon gedacht«, meinte er. »Aber ich wohne in sehr solider Gesellschaft. Links ein Parlamentsabgeordneter, rechts der Dekan von Westchurch -« »Ach! - Sie meinten in Ihre Wohnung?« In ihrer Stimme schwang eine Spur von Enttäuschung mit. »Das ist doch wirklich ausgeschlossen, nicht wahr? Ich meine ...«
Sie sagte nicht, was sie meinte, aber darauf kam es auch nicht an. Es überraschte ihn nicht, daß sie seine Einladung nicht rundweg abgelehnt hatte, dafür kannte er die Frauen zu gut. Man mußte bei ihnen mit allem rechnen.
»Ich wünschte beinahe, daß der Dekan ein Bischof, der Abgeordnete ein Minister und ich statt einfacher Rechtsanwalt Oberrichter wäre«, murmelte er bedauernd.
Jetzt kam es darauf an, ob sie vom Wetter sprach oder sich zu seinen letzten Worten äußerte.
»Sie sind Rechtsanwalt? Dann muß ich Sie kennen. Es gibt im ganzen Temple keinen Anwalt, dem ich nicht schon begegnet wäre.«
Er sprach also von seinem Beruf, bis sie die U-Bahnstation erreicht hatten. Ihre Schritte wurden langsamer. Vor den Schaltern blieb sie stehen.
»Ich würde nicht wagen, Sie in ein ausgefallenes Lokal einzuladen - dazu würden Sie sich bestimmt umziehen wollen. Aber Seezunge, Fasan gegrillt und als Nachspeise plebeischer Reispudding -«
»Hören Sie auf! Ich komme mir vor wie ein schiffbrüchiger Matrose!«
Sie zögerte immer noch und schüttelte den Kopf.
»Wirklich nett von Ihnen, und irgendwie weiß ich auch, daß Sie - in Ordnung sind. Aber es geht nicht. Wo wohnen Sie denn?«
Er deutete zur Eisenbahnbrücke hinüber.
»Northumberland Court - neben dem Club der Nationalliberalen. Meine beiden Dienstboten sind sehr fromm, und weil sie das Schlimmste befürchten, gucken sie durch die Schlüssellöcher, um es nur ja nicht zu versäumen. Sie vermögen aber ihre Frömmigkeit mit einem erheblichen Verbrauch von Bier in Einklang zu bringen!«
Sie sah ihn die ganze Zeit an, wider Willen belustigt.
»Sie reden wie ein Schriftsteller!« sagte sie, und er ärgerte sich ein bißchen. »Ein halbes Abenteuer ist schlimmer als ein ganzes«, meinte sie schließlich. »Her mit Ihrem Fasan und den frommen Dienstmädchen!«
Sie begann etwas schneller zu gehen, beinahe ein bißchen atemlos. Er hoffte, sich nicht getäuscht zu haben. Ihren Standpunkt glaubte er genau verstehen zu können. Sie überquerte den Rubikon - aber einen seichten Rubikon. Man konnte beim ersten Anzeichen von Gefahr zurückwaten - konnte in der Mitte sogar stehenbleiben und überlegen. Viele Frauen hatten sich diesen praktischen Fluß ausgedacht, um später über die Untiefen und die reißende Strömung entsetzt zu sein.
Seine Wohnung lag im Erdgeschoß. Eine der beiden grimmigen Hausdamen öffnete die Tür und verschwand eilig im Eßzimmer, ein zweites Gedeck aufzulegen. Ihr Gegenstück lauerte an der Tür zum Wohnzimmer.
»Legen Sie Hut und Mantel in mein Zimmer«, sagte Lester. »Mary wird Ihnen zeigen -«
»Oh - schauen Sie mich an!«
Die Augen des Mädchens waren weit geworden - es deutete auf die Fotografie auf dem Kaminsims.
Zuerst ärgerte er sich über seine Dummheit; die ihn dazu verführt hatte, das Bild stehenzulassen. Erst diesen Morgen war es eingetroffen.
Dann kam das Staunen. Zweifellos bestand eine deutliche Ähnlichkeit zwischen Lady Alice Farranay und Miss Braunmantel. Eine Ähnlichkeit und doch wieder auch keine . Daher rührte also das Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein. Er erklärte ihr die Unterschiede.
»Aber das ist doch albern!« meinte sie mit der Ungezwungenheit einer älteren Schwester. »Ich habe kurzes Haar und sie nicht - das ist der Unterschied. Ich weiß nicht recht« - sie zweifelte plötzlich -, »die Nase ...? Die Fotografen retuschieren ja soviel ... Aber ich bin ihr jedenfalls ähnlich.«
Sie hatte den Hut abgenommen, und die Ähnlichkeit sprang nicht mehr so stark in die Augen.
Mary stand immer noch an der Tür und trat von einem Fuß auf den anderen. Das Mädchen verließ mit ihr das Zimmer, um sich zurechtzumachen.
Lester nahm das Foto, betrachtete es kalt und legte es in eine Schublade. Nach dem Essen mußte es in den Tresor, zusammen mit dem Foto von Lady Alice, das der Butler an dem Tag aufgenommen hatte, als Johnny Basterby nach Indien abgereist war, und auch zusammen mit den Briefen, die er ihr geschrieben hatte.
Eine schwierige
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