087 - Gefangen in der Unterwelt
Vindos Rücken klaffte eine stark blutende Wunde. Unga hob den Bewußtlosen hoch.
„Ich gehe ins Lager", rief er seinen Männern zu. „Macht euch an das Zerteilen der Tiere!"
Canga und Onda kamen ihm entgegen.
„Deine Prophezeiung hat sich erfüllt, Onda", sagte Unga. „Wir haben fünf Wisente erlegt. Dabei wurde Vindo schwer verletzt."
Ondas Augen leuchteten auf. Sie warf Canga einen triumphierenden Blick zu.
„Ich bin die neue Führerin", meinte Onda.
„Noch nicht", sagte Canga mißmutig. „Warten wir auf Ranga." Sie drehte sich um und verschwand in der Höhle.
Unga legte den Bewußtlosen auf ein Fell, und einige Frauen kümmerten sich um ihn.
Alle Stammesmitglieder, die nicht mit wichtigen Aufgaben betraut waren, schlossen sich Unga an. Viel Arbeit lag vor ihnen.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kehrten Ranga und seine Männer zurück. Ihre Suche nach Rentieren war erfolglos gewesen.
Damit stand fest, daß Onda die neue Führerin des Stammes war. Sie war als Siegerin aus dem Zweikampf hervorgegangen.
Endlich waren alle Wisente ins Abri gebracht worden. Die Frauen brieten große Fleischstücke oder schnitten das Fleisch in schmale Streifen, die sie zum Trocknen über Lederleinen legten. Das getrocknete Fleisch diente als Verpflegung für den Winter.
Seit vielen Monden hatte der Stamm nicht so reichlich Fleisch zur Verfügung gehabt. Alle aßen so lange, bis sie sich kaum mehr bewegen konnten.
Nach dem Essen versammelten sie sich in der Zeremonienhöhle.
Canga und Onda standen sich gegenüber.
„Du bist die neue Führerin des Stammes", sagte Canga leise. Ihr Gesicht verriet nicht, was in ihr vorging. In der rechten Hand hielt sie einen rotgefärbten Kommandostab, der nur wenige Verzierungen aufwies.
Onda trat einen Schritt vor, und Canga reichte ihr den Kommandostab. Die neue Führerin des Stammes drehte sich einmal langsam im Kreis. Dabei blickte sie die Männer und Frauen der Reihe nach an.
„Ich bin die neue Führerin", sagte Onda laut. „Ich werde dafür sorgen, daß es uns allen gutgeht."
Onda hielt ihr Versprechen. Die Kraft ihres Jagdzaubers beeindruckte alle. Sie sah genau voraus, an welchem Platz und zu welcher Zeit sich jagdbares Wild aufhalten würde. Und ihre Voraussagen trafen immer ein.
Kurz bevor der Boden fror, hoben sie eine gewaltige Grube aus, in der sie den Vorrat für den Winter einlagerten. Vor das Lager hatten die Männer Felle gespannt, die den Vorrat vor dem eisigen Wind und dem Schnee schützten.
Dann fiel der erste Schnee, und der Stamm zog sich in die Höhle zurück.
Als der Schnee endlich schmolz, begann wieder die Jagd. Während des Winters hatte Onda nichts von ihren Fähigkeiten verloren. Die Jäger kamen täglich mit reicher Beute ins Lager zurück.
So gut war es dem Stamm nie zuvor gegangen.
Doch dann kam es zu einem folgenschweren Zusammenstoß…
Unga war mit fünf Männern auf der Jagd. Sie versteckten sich hinter ein paar Bäumen und warteten auf die Pferdeherde, die nach Ondas Angaben bald kommen mußte.
Und wie immer behielt Onda recht. Das Donnern der Hufe war zu hören, und die Männer standen rasch auf. Doch irgend etwas mußte die Pferde erschreckt haben. Die Herde raste an den Männern vorbei, und sie war zu weit entfernt, als daß die Männer mit gezielten Speerwürfen hätten treffen können.
Wütend blickte Unga der Herde nach. Als sich der Staub legte, stieß einer der Jäger einen überraschten Schrei aus.
Ein schwarzes Pferd lag tot auf dem Boden.
Rasch lief Unga hin und blieb vor dem Pferd stehen. Es lag auf der linken Seite. In seiner rechten Schulter steckte ein Speer, wie ihn Unga nie zuvor gesehen hatte. Der Speer war armlang und dünn wie ein Finger. Neugierig riß Unga den Speer heraus und betrachtete ihn aufmerksam. Die Spitze bestand aus einem Geweihstück und hatte an beiden Seiten mehrere Widerhaken. In die Spitze war ein kleines Pferd eingeritzt.
„Wie ist es möglich, mit so einem kleinen Speer ein Pferd zu töten?" fragte Saba.
Unga wußte darauf keine Antwort.
„Ich wüßte gern, wer diesen Speer geworfen hat."
„Sicherlich die Linkshänder", meinte Bonda. „Von denen haben wir schon lange nichts mehr gehört."
„Wir bekommen Besuch!" sagte Unga plötzlich. „Einige Linke kommen auf uns zu. Bleibt hinter mir."
Unga drehte sich um und blieb breitbeinig stehen. Seinen Speer stieß er vor sich in den Boden.
Eine Gruppe von zehn Männern kam schnell näher. Sie trugen Lendenschurze und stiefelartige
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