0891 - Knochenklaue
ihren Augen.
Ann sah schrecklich aus mit ihrem weit geöffneten Mund. Keine Luft drang mehr in ihre Lunge, und ihr Widerstand war längst erlahmt. Die Hände waren vom Knochenarm abgerutscht, sie lagen flach neben dem Körper, wobei die Finger ebenso zuckten wie die Füße.
Ann Cordy hatte sich aufgegeben…
***
Richard Cordy wunderte sich, als er den Schlüssel in das Schloß der Haustür steckte. Eigentlich hätte die Tür abgeschlossen sein müssen, aber sie war es nicht.
An einen Einbrecher dachte er natürlich nicht. Er vermutete, daß seine Tochter Ann früher aus dem Geschäft zurückgekehrt war.
Auch er war früher nach Hause gekommen. Seine Frau und seine andere Tochter waren noch bei der Freundin geblieben und wollten später nachkommen. Richard hatte noch zu tun. Er wollte endlich die Holzleuchte anmalen, die er schon gebastelt und auch seiner Tochter versprochen hatte. Aus diesem Grunde hatte er sich in einem kleinen Anbau eine Werkstatt eingerichtet, in der er den größten Teil seiner Freizeit verbrachte.
Er betrat das Haus, und ihm fiel sofort die Stille auf. Leise schloß er die Tür und blieb einen halben Schritt dahinter stehen. Das Eis taute schnell unter seinen Sohlen weg und bildete um die Füße herum erste Lachen.
Richard Cordy runzelte die Stirn. Ihn umfing eine merkwürdige, eigenartige und unnatürliche Stille.
Sie war vergleichbar mit einem Netz, das um seinen Körper geschlungen war.
Nichts war wie sonst.
Oder?
Cordy ging zwei, drei zögernde Schritte auf die Treppe zu. Er schaute hoch, hielt den Kopf dabei verdreht, weil er schräg am Geländer vorbeisehen wollte.
Er hörte nichts. Seine Tochter meldete sich nicht. Trotzdem wußte er, daß sie im Haus war. Und wenn sie sich in ihrem Zimmer aufhielt, hörte sie Musik oder sie saß vor der Glotze, aber auch dieser Apparat lief ja nicht stumm!
Richard rief ihren Namen. Seine Stimme hallte in die Höhe. Eine Antwort erhielt er nicht.
War Ann eingeschlafen?
Unmöglich war es nicht. Hin und wieder war sie ziemlich kaputt aus dem Geschäft gekommen, besonders dann, wenn frische Ware in die Regale geräumt werden mußte.
Das passierte zumeist am Freitag, und es war erst Dienstag. Das Gefühl blieb. Es hatte sich sogar verändert und war zu einer gewissen Furcht geworden.
»Ann!« Er hatte zuvor tief Luft geholt und den Namen seiner Tochter doppelt so laut gerufen. Dieser Schrei hätte selbst Bewußtlose wecken können, aber es gab keine Reaktion. Richard Cordy stand wie verloren auf dem Fleck und schluckte seinen Ärger hinunter.
Es hatte keinen Sinn, wenn er hier unten stehenblieb, sich dabei noch aufregte. Er mußte einfach hochgehen und selbst im Zimmer seiner Tochter nachschauen.
Und er war nicht leise, als er die Stufen hochging. Sie sollte hören, daß er kam. Eigentlich hätte er wütend über sie sein müssen, doch er war es nicht. Die Angst lastete viel stärker auf ihm, und in der ersten Etage hatte er vor, noch einmal zu rufen.
Nein, er tat es nicht.
Über seinem Kopf stand die Tür zu Anns Zimmer offen. Die schmale Stiege endete vor dem Podest, das der Tür vorgelagert war. Der Mann stieg mit wuchtigen Schritten hoch. Er nahm später zwei Stufen auf einmal, und ein erster Blick glitt in ihr Zimmer.
Er reichte aus.
Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht. Die Haut sah aus, als wäre sie zu Gummi geworden. Ann lag wie tot auf seinem Bett und wurde von einer Knochenhand gewürgt.
»Annnnn…!!!!«
Nie zuvor hatte er den Namen seiner Tochter dermaßen laut gebrüllt. Dann stürmte er auf das Bett zu…
***
Ja, ich war nicht allein. Jemand hielt sich in meiner Nähe auf. Ich sah dieses Wesen nicht, ich spürte es nur. Es war kein kalter Hauch, der mich berührte, ich hörte weder ein Zischen noch ein Flüstern, ich wußte nur, daß ich nicht allein im Zimmer der toten Melanie McBain stand. Mich umgab etwas, keine Person, sondern ein Etwas, ein Neutrum, für das es kaum eine konkrete Bezeichnung gab.
Aber wo steckte es?
Eine Bewegung an der Tür lenkte mich ab. Donata McBain schaute hinein. Sie wollte auch etwas sagen, doch sie schloß den Mund wieder, als sie meine heftige Abwehrbewegung sah. »Zurück!« zischelte ich.
Sie ging nicht. »Was ist denn los?«
»Es ist nichts zu sehen!« flüsterte ich, »aber hier ist trotzdem etwas!«
»Wie? Hier im Raum?«
»Ja. Bitte, ziehen Sie sich zurück. Es kann für Ihre Gesundheit besser sein.«
Donata McBain hatte an meinem Tonfall gemerkt, daß ich nicht spaßte.
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