0891 - Knochenklaue
der Halshaut. Sie erinnerten mich an Narben, so tief zeichneten sie sich bereits ab, und ich fragte mich, ob sie von einem Angriff stammten.
Angriff?
War sie wirklich angegriffen worden?
Ich hatte so meine Zweifel, wenn ich mir das Erlebte noch einmal zurückholte. Es war kein Angreifer zu sehen gewesen. Diese Person war aus einem mir nicht bekannten Grund zur Straßenmitte getaumelt und hatte sich so benommen wie jemand, dem die Luft aus den Lungen gepreßt wurde.
Ich stand vor einem Rätsel, und plötzlich klickte es in meinem Kopf, wobei ich mir schon wieder die Frage stellte, ob mich das Schicksal oder der Zufall auf eine bestimmte Spur gebracht hatte, die wiederum mit meinem Job in Verbindung stand.
Wenn ja, dann fing das Jahr ja wieder »gut« an.
Durch die Nase holte ich Luft und glaubte dabei, einen Strom aus Eis einzuatmen.
Auf der kalten Straße wollte ich die Frau nicht liegenlassen. Das konnte trotz des dicken Mantels zu einer Unterkühlung führen, und deshalb fragte ich sie, ob sie aufstehen konnte.
Sie wollte wieder reden, deutete dann aber nur ein Nicken an.
Ich half ihr hoch. Aus eigener Kraft konnte sie nicht stehen bleiben, sie mußte von mir gestützt werden.
»Geht es?«
»Bitte…«
Ich führte sie vorsichtig zu meinem Rover, der noch immer leicht schräg stand. Dann bugsierte ich sie auf den Sitz und schloß die Beifahrertür.
Sie versuchte ein Lächeln, dann fing sie an zu weinen. Als ich einstieg, hörte ich ihr Schluchzen.
Die Wärme des Wagens tat ihr sicherlich besser als mir, und ich ließ sie für eine gewisse Weile in Ruhe, während ich den Rover startete und ihn behutsam an den Straßenrand dirigierte.
Dort blieben wir stehen.
Neben mir atmete die Gerettete schwer. Wieder versuchte sie zu sprechen.
»Bitte«, sagte ich. »Reden Sie erst, wenn Sie sich besser fühlen.«
Sie nickte.
»Wohnen Sie in Ripon?« Wieder das Nicken.
»Ich werde Sie dann nach Hause fahren.«
»Danke.«
Zum erstenmal hatte ich sie sprechen hören, aber ich konnte nicht sagen, daß es eine Stimme gewesen war, die mir da geantwortet hatte. Mehr ein Krächzen, ein Hauch, als wäre sie stark erkältet, und sie schloß für einen Moment die Augen, während sie mit dem Handrücken Tränen von den Wagen wischte.
Ich holte ein Papiertaschentuch hervor und reichte es ihr. Sie nahm es dankbar an und wischte sich damit über das Gesicht.
»Gut so?«
»Danke«, sagte sie noch einmal.
»Ich bitte Sie…«
Ihre kalte Hand legte sich auf die meine. »Wenn Sie nicht gewesen wären, dann wäre ich gestorben. Sie, Sie haben ihn vertrieben. Sie haben meinen Mörder in die Flucht geschlagen.« Ein wildes Husten schmetterte aus ihrem Mund. Sie beugte den Oberkörper nach vorn und preßte eine Hand gegen die Lippen.
In der Lücke zwischen Rück- und Vordersitz stand eine Thermosflasche. Ich angelte sie, schraubte den Verschluß auf und kippte den noch warmen Kaffee in den hellen Becher. Dabei dankte ich meiner Mutter für die gute Vorsorge.
»Trinken Sie bitte, es wird Ihnen guttun.«
Zuerst schaute sie mich skeptisch an, dann nahm sie den Becher in beide Hände und führte ihn an den Mund. Sie trank, aber sie zuckte dabei zusammen wie unter Schmerzen. Ich konnte mir vorstellen, daß der malträtierte Hals weh tat. Sie leerte den Becher trotzdem bis zu Neige und reichte ihn mir dann wieder zurück.
»Fühlen Sie sich etwas besser?« Ich schraubte die Kanne zu und stellte sie wieder an ihren Platz.
»Ja, ja.« Die Frau nickte. »Ich fühle mich schon besser.« Zwar sprach sie noch immer rauh und flüsternd, zuckte auch bei jedem Wort zusammen, aber ich konnte sie verstehen. Wieder faßte sie nach meiner Hand. »Mister, wenn Sie nicht gewesen wären, dann…«
»Freuen Sie sich, daß Sie es überstanden haben. Ich fahre Sie jetzt nach Hause.«
Die Frau runzelte die Stirn, als würde sie über etwas nachdenken. »Nach Hause?« hauchte sie tonlos. Dabei schaute sie durch die Scheiben auf die Straße, die sich als graues, teilweise schimmerndes Band dem Ort entgegenwand. »Es ist mein Zuhause, das stimmt, aber ich kann es nicht mehr sehen.«
»Warum nicht?«
»Seit ich…«, sie saugte die Luft ein und schaute mich an. »Halten Sie mich für verrückt, Mister?« keuchte sie und umklammerte meine Handgelenke.
»Nein, warum?«
»Aber Sie werden mich für verrückt halten, wenn ich Ihnen meine Geschichte erzähle.«
»Versuchen Sie es.« Ich lächelte sie an. »Übrigens, ich heiße John
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