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0893 - Der Atem des Bösen

0893 - Der Atem des Bösen

Titel: 0893 - Der Atem des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adrian Doyle
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vielleicht selbst schon Kinder…
    Das Bild an der Wand zeigte ein junges Mädchen, wie Corben sich seine Tochter zum Zeitpunkt, da er die Linien in die Wand gekratzt hatte, vorstellte. Natürlich hatte er es nicht geschafft, sie auch nur annähernd lebensgetreu darzustellen, aber ihm hatte es genügt. Den Rest hatte seine Fantasie erledigt.
    Er hatte sich vorgestellt, dass sie ihm verziehen hatte. Dass sie inzwischen alt genug sei, um zu begreifen, dass ihre Mutter ein billiges Flittchen und ein böses Weib gewesen war, das ihn tagein, tagaus immer nur gedemütigt und bis aufs Blut gereizt hatte, bis… ja, bis es eben passiert war. Er war kein schlechter Kerl. Niemand hätte das auf Dauer ertragen, niemand!
    All die Jahre der Haft hatten es nicht geschafft, ihn zur ehrlichen Reue zu bringen. Vielmehr hatte er sich von Jahr zu Jahr mehr in der Überzeugung verstiegen, selbst das Opfer seiner Tat geworden zu sein. Die Justiz hätte all die Dinge berücksichtigen müssen, die sein Verbrechen erst hatten geschehen lassen. Aber der Richter war taub für jedes Argument gewesen, das Corben vorgebracht hatte. Stattdessen hatte er sogar auf eine besondere Schwere und Heimtücke der Tat erkannt… Der Rest war Geschichte. Corben war in die gefürchtete Haftanstalt an der Themse gebracht worden. Und für die ersten Jahre war Isolationshaft über ihn verhängt worden. Erst seit relativ kurzer Zeit durfte er ab und zu in den Innenhof und sich dort mit Mitgefangenen treffen.
    Zu spät. Er hatte verlernt, mit anderen zu sprechen, mit ihnen auszukommen. Nur Raffles genoss sein Vertrauen. Er war so etwas wie sein Beichtvater geworden, dem er seine geheimsten Gedanken anvertrauen konnte. Der zuhörte und ihn nie kritisierte.
    Corben vermutete, dass Raffles nach Dienstschluss auch kein leichtes Leben hatte. Einmal hatte er sich dazu hinreißen lassen, über seine eigene Frau zu schimpfen.
    Vielleicht verstand er Corben deshalb so gut…
    Und jetzt leuchtete plötzlich Lorys Bild dort im Dunkel.
    Corben begriff es nicht. Wenn er schon ganz gewiss kein begnadeter Künstler war, so war er noch viel weniger ein… Zauberer.
    Für das Licht, das aus den Furchen im Stein brach, gab es keine Erklärung. Es war immer noch Nacht, die Dunkelheit füllte die Zelle wie schwarze Tinte und sparte nur den winzigen Bereich aus, wo Corben…
    Bereits auf dem Weg, sich nach vorne zu beugen, zuckte er jäh zurück.
    Das Licht wurde milchiger, als verdichte es sich oder vermenge sich mit irgendeiner Substanz, die dem Häftling wie leuchtender Nebel entgegenwallte.
    Weit konnte er nicht fliehen, die Zelle war winzig, und dann hatte er mit einem Mal wieder die Tür im Rücken. Er ballte die Hände zu Fäusten und hämmerte gegen das Holz. Raffles (wenn es Raffles gewesen war) konnte noch nicht weit sein, er würde es hören! Und plötzlich war Corben auch egal, ob er andere Gefangene weckte. Das hier war…
    … nicht normal
    Nicht einmal erklärlich.
    Nicht nur das nebelhafte Gebräu wehte ihm entgegen, tastete wie suchend nach ihm, sondern auch ein seltsamer Ton, eine Mischung aus Wimmern, Kichern, Keifen. Vor allem Letzteres kam ihm grotesk vertraut vor.
    Seine Arme erlahmten, die Fäuste hörten auf, gegen die Tür zu klopfen.
    Aus dem milchigen Licht formte sich eine Gestalt.
    Corben beobachtete es mit wachsendem Entsetzen.
    Und irgendwann fing er an zu schreien wie noch nie in seinem Leben.
    Die aus Lorys Zeichnung gequollene Lichtgestalt war niemals seine Tochter. Sie ähnelte vielmehr ihrer Mutter. So sehr, dass Corben nicht anders konnte, als die Fingernägel ins Türholz zu graben und in die Grimasse der Geisterfrau zu starren, die ihn nun in die Arme nahm.
    ***
    Jamie Raffles war kein ängstlicher Mann. Sonst hätte er keine Furie zur Frau genommen, keine acht Blagen in die Welt gesetzt und wäre ganz bestimmt auch nicht Gefängniswärter in einem verrufenen Bau wie diesem geworden.
    Nein, niemand konnte ihm nachsagen, eine Memme zu sein. Aber bei seinem heutigen Rundgang durch das Ganglabyrinth der Millbank-Anstalt war irgendetwas anders als sonst. Irgendetwas…
    Als ihm die widernatürliche Stille auffiel, war er etwa auf Höhe der Tür, hinter der Len Corbens Zelle lag.
    Er wusste nicht, warum, aber er mochte es, ab und zu ein paar Takte mit dem Einzelgänger zu wechseln, den sie lange vor Raffles Dienstantritt wegen Mordes an seinem Eheweib eingebuchtet hatten. Corben hatte eine faszinierende Art, mit wenigen Worten viel zu sagen, und wenn

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