0895 - Im siebten Kreis der Hölle
Furcht nie mehr ganz loswerden würde.
»Flieg zurück an das Ufer, an dem ich mir das Boot ausgeliehen habe«, sagte sie unvermittelt, ohne den Irrwisch anzusehen.
»Andere Leute nennen das wohl gestohlen und nicht ausgeliehen«, widersprach Karon.
»Da der Besitzer tot ist, juckt es mich nicht, was andere Leute sagen«, stellte Ling klar. »Du tust, was ich sage. Du fliegst zurück und wartest am anderen Ufer auf mich. Wenn ich zurückkomme, nehme ich dich wieder mit. Anderenfalls bleibst du hier.«
»Wenn du zurückkommst«, echote der Irrwisch. »Das dürfte nicht sicher sein.«
»Stell dich nicht so an. Ich habe eine Order zu erfüllen, die keinen Aufschub duldet. Du wärst mir dabei nur hinderlich.«
»Ach, genauso hinderlich wie vorhin bei dem Schwarzen und dem Riesenvieh, ja?«, regte sich der Kleine auf. »Da hast du ja gesehen, wie hinderlich ich war.«
Ling konnte nicht umhin anzuerkennen, dass er recht hatte. Dennoch wollte sie kein Risiko eingehen. Sie sollte den Auftrag allein erledigen, höchstens die Schattentattoos durften ihr helfen.
Sie überlegte mehrere Minuten, dann drehte sie sich zu ihrem Begleiter um.
»Es bleibt dabei. Ich gehe allein am Zielufer an Land.«
***
»Ich muss wirklich den Verstand verloren haben«, murmelte sie eine halbe Stunde später. »Sag mir, dass ich verrückt bin. Wie komme ich dazu, dich gegen meinen Willen mitzunehmen? Das ist doch paranoid.«
Karon hütete sich, auch nur ein Wort zu sagen, aus Angst davor, dass Ling ihn schlussendlich doch wegschicken könnte. Er war nur froh, dass es ihm gelungen war, die Amazone zu überreden, ihn vorerst an Bord bleiben zu lassen.
»Mach dich wenigstens nützlich!«, herrschte sie den Irrwisch an. »Das Ufer soll laut meinen Informationen nicht mehr weit entfernt sein. Wie wäre es, wenn du deine Aufenthaltsgenehmigung als Beobachter verdienst?«
»Ich höre und gehorche«, leierte Karon das Ritual herunter. Er drehte sich um und entschwebte, froh, dass er keine weiteren Argumente für sein Hierbleiben mehr finden musste.
Ling sah dem Hilfsgeist hinterher, bis sie ihn nicht mehr sah. Sie hatte ihn unter anderem deshalb so barsch behandelt, weil sie langsam nervös wurde. Sie wusste um den derzeitigen Aufenthaltstort des Gesuchten. Hätte es sich darum gehandelt, ihn unschädlich zu machen, hätte Ling sich keine Sorgen gemacht. Sie konnte sich auf ihr Schwert und ihre Reflexe verlassen. Ein Feind war schnell getötet.
»Aber nein, Lady Fürstin hat ja wieder einmal Extrawünsche«, murmelte sie mit einem boshaften Unterton. »Ab sofort sollen die Gegner auch noch geschont werden. Was für eine Zumutung!«
Kaum hatte sie das laut ausgesprochen, sah sie sich auch schon furchtsam um. Der Fürstin der Finsternis gegenüber hätte sie sich einen derartigen Tonfall nie erlaubt. Und sie konnte sich auch nicht leisten, dass ihr das jemand hinterbrachte.
Auf einmal war Karon wie aus dem Nichts wieder da. Ling hatte ihn nicht kommen sehen. Der Irrwisch umkreiste die Amazone dreimal in einem sicheren Abstand, so dass sie ihn nicht mit der Hand erreichen konnte.
»Ich hab ihn gefunden! Ich hab ihn gefunden!«, fiepte der Hilfsgeist aufgeregt. »Mir nach, Menschin Ling!«
Dann war er wieder verschwunden.
»Und ich hätte ihn doch zurückschicken sollen«, zischte Ling, die Karon einige Meter vor sich schweben sah. Dennoch beeilte sie sich, den Irrwisch nicht zu verlieren.
***
»Und wo ist er jetzt…?«
»Nicht so laut, Menschin!« Die Stimme des Irrwisch klang äußerst gedämpft.
»Verdammt noch mal! Ich heiße nicht Menschin!«, zischte Ling.
»Sei leiser, sonst hört er uns vielleicht noch!«
Ling musste widerwillig zugeben, dass Karon damit zweifellos recht hatte. Das Letzte, was sie wollte, war, den Vampir frühzeitig aufmerksam zu machen, denn damit hätte sie den Auftrag vermasselt.
Sie hatte das Boot aufs Ufer gefahren, damit es nicht fortgetrieben werden konnte. Die Vegetation begann hier nur wenige Meter vom Wasser entfernt und wurde immer dichter, je weiter sie vorankamen.
Und sie wurden mit jedem zurückgelegten Meter langsamer, denn hohe Gräser und dicht nebeneinanderstehende Bäume erschwerten das Vorankommen ungemein.
Die Amazone verfluchte in Gedanken abwechselnd Stygia, Karon, das Boot und den Vampir, den sie fangen sollte. Am meisten jedoch ärgerte sie sich über die eigene Schwäche. Nach der Tortur als brennende Seele hätte sie unbedingt ein paar Tage der Erholung gebraucht. Erholung, die
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