0895 - Schattenkiller
und arbeiteten sich überall durch. Selbst Steinmauern wurden im Laufe der Zeit brüchig, und sie hielten sich gern an Orten auf, wo es feucht war - wie in diesem Verlies.
Die Frau erschrak. Groß und rund waren ihre Augen geworden, ein Zeichen der Angst. In ihrem Gehirn arbeiteten die Gedanken fieberhaft. Sie waren dabei, sich zu überschlagen, und sie fragte sich, was geschehen würde, wenn die Ratten hungrig, sehr hungrig waren.
Dann würden sie auch Menschen angreifen. Brutal und ohne Rücksicht. Sie würden sich auf sie stürzen, um zuerst die Kleidung zu zerfetzen. Danach bissen sie in die Haut, bissen und bissen, bis das Blut aus den Wunden strömte und ihren Hunger noch mehr anstachelte.
Die zweite Ratte sah direkt putzig aus.
Sie hockte vor ihr, den Kopf mit der spitzen Schnauze in die Höhe gereckt. Sie schnupperte, die Barthaare bewegten sich zuckend. Ihr Maul stand spaltbreit offen. In der Lücke schimmerte das Weiß ihrer spitzen Zähne.
Eine zweite Ratte. Oder war es die erste?
Lucille wußte es nicht. Ratte war Ratte, Hunger war Hunger, und Zähne waren Zähne.
Noch immer starrte sie das pelzige Tier an. Der Schwanz lag auf dem Boden. Er bewegte sich und zuckte dabei von einer Seite zur anderen. War es ein Zeichen der Erregung? Reagierte sie so wie eine Katze? Lucille konnte darauf keine Antwort geben. Sie wußte es nicht. Sie war einfach zu hilflos.
Noch wartete oder lauerte die Ratte. Wahrscheinlich suchte sie sich einen günstigen Moment aus, um in die Höhe zu springen.
Nein, sie tat es nicht.
Plötzlich rannte sie auf Lucille zu. Das Trippeln ihrer Füße war deutlich zu hören. Das Tier brauchte nicht weit zu gehen, und Lucille hatte Mühe, einen Schrei zu unterdrücken, als die Füße über ihren Schuh hinwegkratzten und sich im nächsten Augenblick die Krallen der Ratte im Stoff der Hose verbissen.
Es war erst der Beginn!
Die Ratte lief an Lucilles Beinen hoch. Die Krallen drangen durch den Stoff und die Gefangene spürte auf der Haut, wie sie kratzten, weiter nach oben wanderten, die Hüfte erreichten, sich für einen Moment am Gürtel festhakten, weil die Ratte eine Pause einlegen wollte.
Sie starrte aus ihren kleinen Augen nach oben, und Lucille hielt den Kopf gesenkt.
Beide schauten in ihre Gesichter.
Augen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. In Lucilles Blick hatte sich die Furcht eingenistet, die Ratte jedoch - so glaubte sie zumindest - starrte sie voller Gier an.
Lucille wußte nicht mehr, was sie denken sollte. Sie war zu einem starren Wesen geworden, ein mit Haut überzogener Eisbalken, der sich weit, weit weg wünschte.
Noch tat die Ratte nichts. Es war für Lucille schlimm, denn das erhöhte ebenfalls ihre Folter.
Es gab nichts, was sie noch bewegen konnte. Das Eis hatte von ihrem gesamten Körper Besitz ergriffen. Es war wie eine Schicht, die sich von außen nach innen gedrängt hatte und dafür sorgte, daß sie nicht mehr atmen konnte.
Das Herz aber schlug.
Sie wollte sich nicht mehr auf ihren eigenen Körper konzentrieren, sondern mußte nur das verdammte Tier anschauen.
Und das wollte nicht mehr warten.
Plötzlich löste es sich von seinem Platz und sprang in die Höhe. Für einen Moment stand das Tier parallel zu ihrem Körper, dann griffen die Pfoten mit ihren Krallen wieder zu, und diesmal schafften sie es, den Stoff des Pullovers zu fassen.
Lucille spürte die Krallen jetzt an ihrem Oberkörper. Sie hatte den Mund weit aufgerissen, nur drang kein Schrei aus ihm hervor. Die junge Frau war tatsächlich in ihrer Angst vor der Ratte regelrecht erstarrt. Kein Schluchzen, kein Flüstern, kein Schreien, sie wehrte sich zudem innerlich dagegen, den Weg der Ratte bewußt zu verfolgen, aber sie bekam ihn genau mit.
Das Tier bewegte sich an ihrem Oberkörper hoch.
Auf das Gesicht zu!
Und was das bedeutete, brauchte sie sich nicht erst vorzustellen. Die spitzen Zähne würden die empfindliche Gesichtshaut in Sekundenschnelle zernagen, sie würden…
Ihre Gedanken brachen ab.
Kein Tier krabbelte mehr über ihre Brust. Aber die Ratte war auch nicht zu Boden gesprungen. Sie hockte auf ihrem Körper und hatte ihren Platz auf der linken Schulter gefunden. Dort hockte sie wie ein Stein, bewegte sich nicht, und auch Lucille traute sich nicht, den Kopf zu drehen.
Sie wartete ab.
Den Geruch der Ratte nahm sie schon wahr. Das Tier stank nach Staub, Abfall und Feuchtigkeit. Sie hörte dicht vor ihrem Ohr das leise Schmatzen. Es klang wie das akustische
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