0895 - Schattenkiller
Signal der Vorfreude auf ein gewisses Mahl.
Soll sie beißen, dachte Lucille plötzlich. Soll sie doch beißen, aber bitte nicht in meine Haut, sondern die Stricke zerfetzen. Eine ähnliche Szene hatte sie mal in einem Film gesehen, nach einer Geschichte von Edgar Allan Poe, da hatte eine Ratte die Fesseln eines Mannes durchgebissen, der von einem mörderischen Pendel bedroht wurde.
Die Ratte tat ihr den Gefallen nicht.
Leicht bewegte sie sich auf ihrer Schulter, und die Frau schielte nach links.
Das Tier hockte nicht mehr, es hatte sich aufgestellt. Zugleich spürte Lucille, die Berührung an ihrem rechten Fuß.
Sie schielte nach unten.
Nein!
Es war ein Schrei, der nur in ihrem Kopf aufbrandete. Sie wollte es nicht glauben, aber ihre Augen täuschten sie nicht.
Auf dem Fuß hockte die zweite Ratte, schaute zu ihr hoch und krabbelte wenig später an ihrem rechten Bein entlang, ebenfalls dem Gesicht der Frau zu.
Lucille wünschte sich, ohnmächtig zu werden.
Das passierte nicht.
Statt dessen lief die Folter weiter, und an ihrem linken Ohrläppchen merkte sie die erste Berührung der Ratte mit der ungeschützten Haut…
***
»Ich hätte es mir denken können, John.«
»Was, bitte?«
»Daß du nicht aufgibst.«
Ich lächelte nur und schwieg ansonsten. Natürlich hatte ich nicht im Traum daran gedacht, aufzugeben, auch wenn es so ausgesehen haben mußte.
Wir waren wieder in den Clio gestiegen und weggefahren. Zumindest so weit, bis wir eine Deckung gefunden hatten, hinter der das Fahrzeug verschwinden konnte. Es war eine flache Senke, aber geschützt durch struppiges Buschwerk. Wer jetzt vom Kloster aus unseren Wagen entdecken wollte, der mußte das Haus verlassen und bis zu einer bestimmten, leicht erhöhten Stelle gehen, sonst hatte er keine Chance.
Wir waren dann ausgestiegen und zu Fuß weitergegangen. In einem großen Bogen und immer die spärliche Deckung ausnutzend hatten wir uns dem Kloster von der Rückseite her genähert, in der Hoffnung, dort einen besseren Ort zu finden, um ungesehen auf das umzäunte Gelände zu gelangen.
Jetzt standen wir wieder vor dem Zaun. Der Maschendraht schimmerte vom letzten Regen feucht.
Die Wolken über uns hatten sich noch mehr verdichtet, und die Sonne war nicht zu sehen. Sie schien diesen Tag zu hassen und hielt sich versteckt.
Die Rückseite des Klosters sah tatsächlich anders aus und gab Anlaß zu einer gewissen Hoffnung, was sich besonders auf die Fenster bezog, die eigentlich keine waren, sondern nur Luken, wie man sie von Befestigungsanlagen alter Burgen her kennt.
Auch Marco hatte sie entdeckt. Er nickte mir zu. »Das sind die Fenster zu den einzelnen Zellen.«
»Denke ich mir auch.«
»Ich weiß es deshalb, weil meine Schwester es mir erzählt hat. Sie hat ja in einer der Zellen gehaust.«
»Ja, das ist wohl richtig.«
Sogar den kleinen Klostergarten gab es noch. Er war von einer kniehohen Mauer umgeben, und vier Obstbäume reckten ihre jetzt leeren Äste über die Mauerkrone hinweg.
»Hier müssen wir rüber!« sagte ich.
Marco nickte und schaute am Maschendraht hoch. »Du glaubst nicht, daß er elektrisch geladen sein könnte?«
»Nein, ich sehe keine Kontakte. Es ist in dieser Hinsicht kein Risiko, wenn wir ihn überklettern.«
»Und in der anderen?«
»Keine Ahnung. Ich hoffe nur, daß sie uns das Verschwinden abgenommen haben.«
»Ja, das hoffe ich auch.« Marco nickte. Er schaute zu, wie ich über den Zaun kletterte. Er bog sich unter meinem Gewicht, und ich hatte etwas Mühe mit dem Gleichgewicht, deshalb war ich froh, daß mich Marco abstützte.
Als ich meine Hände auf die Zaunkrone legte, schwang ich auch die Beine hoch. Zuerst das rechte Bein, danach das linke, so erreichte ich die andere Seite des Zauns, sprang nach unten, wobei ich auf einem weichen Boden landete.
»Alles klar?« fragte mich Marco, der noch an der Vorderseite des Zauns stand.
»Ja, es ist okay.«
»Kann ich jetzt klettern?«
»Komm schon.«
Marco machte es mir nach. Diesmal half ich ihm, denn ich griff durch die Lücken und unterstützte ihn so bei seinen Bemühungen. Er hatte einige Schwierigkeiten, wäre beinahe noch gefallen, konnte sich aber festhalten und pendelte mit dem Zaun vor und zurück.
Schließlich hatte er es geschafft, sprang zu Boden und wurde von mir festgehalten. Dabei merkte ich, daß der junge Mann zitterte.
»Alles ist gutgegangen, Marco.«
Er holte pfeifend Luft. »Das bin ich nicht gewohnt. Außerdem war ich nie ein großer
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