0897 - Monster-Maar
anhäuften, mit deren Sichtung und Sortierung er gerade beschäftigt war. Nun würde er seine Arbeit, die tägliche Organisation des Klosters, unterbrechen müssen - um einem Mitbruder ein paar Fragen zu stellen, deren Antworten er fürchtete. Konnte es wirklich sein, dass…
Bauerschwan weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu führen. Das Gespräch mit Richard würde für Klärung sorgen. Es musste einfach so sein.
Abermals öffnete sich die Eichentür, und der Erwartete betrat den Raum. Bauerschwan beobachtete den alten Mönch genau: die leicht gebückte Körperhaltung, das faltenreiche Gesicht. Richard, Verwalter der hiesigen Klosterbibliothek, war ein Mann, der die sprichwörtliche Blüte seiner Jahre schon vor einigen Dekaden hinter sich gelassen hatte. Und der mit seinen 84 Lenzen mittlerweile der älteste Bewohner des Klosters war. Ein gebrechlicher Mann, der sein Heil im christlichen Glauben gesucht und gefunden hatte. Nicht mehr als das , dachte der Abt. Nicht mehr.
»Richard, komm näher«, sagte Bauerschwan aufmunternd und wies dem Alten einen Stuhl zu. Mühsam nahm der Mönch Platz.
»Sie wollten mich sprechen, Abt?«, fragte er mit brüchiger Stimme, ein weiteres Zeichen seines hohen Alters. Bauerschwan nickte, atmete noch einmal tief ein - Glauben! - und legte los. »Richard, mir ist zu Ohren gekommen, dass du gestern einen kleinen Ausflug unternommen hast.«
»So?« In Richards Zügen lag ehrliche Überraschung. Bauerschwan wusste, dass der Bruder allmählich seine geistigen Fähigkeiten verlor. Es war schon einige Male aufgefallen, dass er sich an gewisse Tätigkeiten nicht mehr erinnerte.
»Wie es heißt, hast du dich zum Nürburgring begeben. Ich habe hier das Fahrtenbuch aus der Klostergarage, aus dem ich ganz klar ersehe, dass du am frühen Nachmittag einen Wagen genommen hast.«
Richard beugte sich ein wenig vor, um einen Blick auf Bauerschwans Schreibtisch zu werfen. Der Abt wies mit dem Zeigefinger auf die Stelle im Fahrtenbuch, die Bruder Richards Unterschrift enthielt. Richard studierte das Blatt einige Augenblicke lang, dann lehnte er sich wieder zurück.
»Herr Abt, Sie wissen, dass es um mein Gedächtnis nicht mehr allzu gut bestellt ist. Alles, was über die Bestände unserer Bibliothek hinausgeht, droht darin mitunter… in Vergessenheit zu geraten. Durchaus möglich, dass ich gestern fort war. Immerhin steht es dort geschrieben.«
Bauerschwan nickte. Die Unterschrift im Fahrtenbuch war eine Tatsache, die sich nicht wegerklären ließ.
»Doch wenn Sie mich fragen wollen, was ich dort gemacht habe«, fuhr Bruder Richard fort, und ehrliches Bedauern klang aus seinen Worten, »dann muss ich Ihnen sagen, dass ich es nicht weiß. Ich kann mich nicht einmal erinnern, fort gewesen zu sein.«
Für einen Augenblick schwieg Bauerschwan, und sah dem alten Mönch tief in die Augen. Das war die Antwort gewesen, die er erwartet und gefürchtet hatte. Die Antwort, die genauso wenig sein durfte, wie die Sache, wegen derer sie beide hier waren. »Ich weiß, was du auf dem Nürburgring gemacht hast, Richard«, sagte Bauerschwan. Er wunderte sich selbst, wie ruhig und sachlich seine Stimme klang. »Du hast einen Touristen tätlich angegriffen.«
Richards Augen weiteten sich, dann stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. »Sie scherzen, Abt Germut.«
Bauerschwan schüttelte langsam den Kopf. »Ich wünschte bei Gott, es wäre so.« Er erhob sich aus seinem Sessel und machte ein paar Schritte durch den Raum, vorbei an den Bücherregalen und dem kleinen Fernseher, während er weitersprach. »Du hast einen französischen Teilnehmer eines Fahrsicherheitstrainings angegriffen und ihm, wie der Veranstalter uns heute Morgen wissen ließ, mehrere gezielte Schläge in Kopf- und Magengegend verpasst. Weder der Veranstalter noch der Tourist wollen uns etwas Böses, wir brauchen also keinerlei Folgen zu erwarten, und doch bleibt eine Frage bestehen.«
Neben dem Stuhl des Alten hielt er an. Ungläubig sah Richard zu ihm auf, und in seinen Zügen las Bauerschwan die Angst, dass die Worte des Abtes vielleicht doch wahr sein konnten. Bauerschwan schluckte trocken, dann fuhr er fort. »Die Frage nach dem Wie. Wie kann es sein, dass ein alter Mann von Mitte Achtzig einen deutlich Jüngeren so schlagen kann, ohne selbst getroffen zu werden? Wie kann es sein, dass ein alter Mönch ein solches Gewaltpotenzial entwickelt - und die nötigen Kraftreserven, um dieses auszuleben?!«
»Ich… ich weiß nicht…«,
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